INTERNATIONAL UNIVERSITY BREMEN

Entwicklung und Bildung ein Leben lang gestalten

   

English Version

Vortrag von Prof. Dr. Ursula M. Staudinger, Vice President and Academic Dean der International University Bremen

am 22.10.2003 zur Eröffnung des Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development

Es gilt das gesprochene Wort.

[ Oct 22, 2003]  Es hat sich im Laufe der letzten 100 Jahre eine zunächst sehr stille, demographische „Revolution“ vollzogen, die nun im 21. Jahrhundert mit großer Macht ihren Tribut fordert und eine Herausforderung darstellt für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Wissenschaft. Wir haben in den letzten 100 Jahren eine Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung (bei Geburt) von etwa 30 Jahren erlebt, die sich nicht auf den Rückgang in der Kindersterblichkeit reduzieren lässt (z. B. Dinkel, 1994). Dies ist eine unerhörte Errungenschaft der menschlichen Kultur und kein Ergebnis biologisch-evolutionärer Prozesse (Baltes, 1997).

Daraus lässt sich eine gesellschaftliche und individuelle Verantwortung ableiten, das bereits Begonnene verantwortungsvoll weiterzuführen (Staudinger, 2003). Man könnte es gar als unverantwortlich bezeichnen, beim Hinzufügen von 30 Jahren, also der Quantität, stehen zu bleiben und sich nicht mehr um die Qualität dieser Jahre zu kümmern. Dies ist nicht nur unverantwortlich gegenüber dem Einzelnen, sondern auch volkswirtschaftlich folgenschwer. Nach der Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes – wir alle kennen diese Zahlen inzwischen zur Genüge – werden im Jahre 2050 fast 40% der Bevölkerung 60 Jahre und älter sein und diese Prognose geht schon von einer jährlichen Zuwanderung von 100.000 Personen aus (Statistisches Bundesamt, 2000).

Für die Ausgestaltung und Nutzung dieser gewonnenen Jahre müssen Gesellschaft, Wissenschaft und der Einzelne zusammenarbeiten: ein fundamentales Umdenken und Umgestalten individueller Lebensläufe aber auch unserer Institutionenwelt ist unerlässlich geworden. Riley und Riley wiesen schon in den späten 80er Jahren darauf hin, dass wir in unserem Denken, Handeln und unseren institutionellen Strukturen der demographischen Entwicklung weit hinterher hinken (z. B. Riley & Riley, 1994). Es gilt, diese Lücke zu schließen. Genau hier will das Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development in Forschung, Lehre und Consulting einen Beitrag leisten.

Die Macht von öffentlichen Altersbildern

Zunächst muss sich vor allem in unseren Köpfen und in der Öffentlichen Meinung etwas ändern. Wir müssen neue Bilder und Modelle des menschlichen Lebenslaufs und des Alterns entwickeln und verinnerlichen. Dies scheint auf den ersten Blick unwichtig, in Anbetracht der drängenden sozialpolitischen Probleme, die sich uns gegenwärtig stellen. Doch die psychologische Stereotypenforschung einer Susan Fiske oder eines Claude Steele hat sehr eindrucksvoll erwiesen, wie machtvoll und handlungsrelevant diese Scheren im Kopf sind (z. B. Fiske, 1998; Steele & Aronson, 1995). Und wir wissen aus Studien zur lebenslangen menschlichen Entwicklung, wie wichtig positive und wie zerstörerisch negative Ergebniserwartungen – wie sie eben auch durch negative Stereotype erzeugt werden – bei der erfolgreichen Umsetzung von Plänen sind (z. B. Brandtstädter, Krampen & Greve, 1987). Außerdem haben die Forschungen zu lebenslangem Lernen gezeigt, wie zentral für den Erfolg institutioneller Umstrukturierungen die Denkfiguren sind, die der Einzelne über Lebenslaufsmuster und Bildungsabläufe im Kopf hat (z. B. Staudinger, 2000).

Eine wichtige Voraussetzung für die notwendigen gesellschaftlichen und individuellen Veränderungsprozesse ist deshalb eine veränderte Konzeption von Ausbildung und Bildung, die sich auch in den Medien und der öffentlichen Meinung niederschlägt. Nachwachsende Generationen dürfen nicht mehr mit der Vorstellung aufwachsen, dass „Schule“ etwas ist, was man am Anfang des Lebens für einige Jahre absolviert und dann mit dem erworbenen Abschluss ad acta legt, sondern sie müssen mit der Vorstellung groß werden, dass es vielmehr normal ist, sich ein Leben lang weiterzubilden, neu zu bilden, umzubilden. Gleiches gilt für Lehrer, Ausbilder und Eltern. Bei diesen Kohorten, die mit anderen Bildungskonzeptionen aufgewachsen sind, wird die Veränderung allerdings noch schwieriger zu erreichen sein. Es muss sich das Verständnis durchsetzen, dass sich Bildung im Alter und Bildung für das Alter individuell und volkswirtschaftlich „lohnt“.

Die Medienforschung hat ferner gezeigt, dass in den Medien, und damit in der öffentlichen Meinung, häufig noch ein einseitig negatives Altersstereotyp vorherrscht. Alter wird in den Printmedien, Nachrichten- und Magazinsendungen fast ausschließlich als sozialpolitische Problemlage diskutiert. Das in der Öffentlichkeit vorherrschende negative Altersbild vom pflegebedürftigen, abhängigen und dementen, alten Menschen, hat eine nicht zu unterschätzende Modellwirkung auf ältere Menschen (z. B. Levy et al., 2002; Rother-mund & Brandtstädter, in Druck). Das heißt, die im negativen Stereotyp beschriebene mangelnde Kompetenz und erhöhte Abhängigkeit im Alter wird verinnerlicht und in der Folge traut sich der ältere Mensch selbst nichts mehr zu und gibt zu schnell auf. So entsteht ein schwer zu durchbrechender Teufelskreis.

Umgekehrt kann aber auch ein unrealistisch positives Altersbild, wie es häufig in Unterhaltungssendungen gezeichnet wird (Kessler, Rakoczy & Staudinger, 2003), negative Konsequenzen haben, nämlich dann, wenn der Einzelne feststellen muss, dass dieses positiv verzerrte Idealbild für ihn unerreichbar ist. Hier liegt eine gesellschaftliche Verantwortung, u. a. auch für die Medien, im Unterhaltungs- wie im Informationsbereich ein vielfältigeres Bild des Alters zu propagieren.

Ein „neues“ Bild vom Altern

Aber wie sieht denn nun ein realistischeres Bild vom Altern aus? Wenden wir uns zunächst der Lebenslaufstruktur zu: Die Forschung der Lebenslaufsoziologie, etwa eines Martin Kohli, hat uns beispielsweise gezeigt, dass die klassische Dreiteilung der Lebenszeitstruktur in Bildung im ersten Lebensabschnitt, Arbeit im mittleren und Freizeit im letzten Lebensabschnitt überholt ist und sich auflöst (z. B. Kohli, 1994). Wir müssen sukzessive Abschied nehmen von der Vorstellung, in der Kindheit und Jugend nur zu lernen, dann nur zu arbeiten und im Alter nur Freizeit zu haben.

Arbeitsbiographien werden nicht mehr aus der Ausübung eines Berufs bestehen, sondern es muss immer wieder Phasen der beruflichen und wissenschaftlichen Weiterbildung und auch der Umbildung geben. Dazu ist es notwendig, an Bildungsurlaub und das sogenannte Sabbatjahr zu denken und diese zu einem ganz normalen und regelmäßigen Bestandteil unserer Arbeitswelt zu machen (Mayer, 1994).

Schließlich kann das Alter nicht mehr nur aus Freizeit bestehen. Dazu ist diese letzte Lebensphase zu lange geworden und dazu sind wir im 3. Alter, also zwischen 60 und 75/80 Jahren, in der Regel noch zu gesund und fit (z. B. Steinhagen-Thiessen et al., 1996). Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Verwandlung der Bevölkerungspyramide in einen Bevölkerungspilz es notwendig macht, die tätige Produktivität dieser gewachsenen Bevölkerungsgruppe zu nutzen.

Sehen wir uns nun nach der Lebenszeitstruktur das Kompetenzprofil des alten Menschen etwas genauer an, so haben die Untersuchungen der Lebensspannenpsychologie gezeigt, dass es das Altern nicht gibt. Es gibt sehr große Unterschiede zwischen Personen. Jede Person altert anders (z. B. Mayer & Baltes, 1996). Das chronologische Alter verliert im Verlauf des Lebens zunehmend an Informationswert hinsichtlich der Eigenschaften und der Leistungsfähigkeit eines Menschen. Wir finden in psychologischen Unter-suchungen 70-jährige, die die kognitive Leistungsfähigkeit von 45-jährigen aufweisen, aber auch solche, die kognitiv wie ein durchschnittlicher 90-jähriger „aussehen“ (Baltes, Staudinger & Lindenberger, 1999). So wurden auch in der von Paul Baltes und Karl Ulrich Mayer geleiteten Berliner Altersstudie unter den über 75-jährigen mehr als sieben verschiedene Altersformen gefunden, die vom fröhlich, fit und aktiven über den zufriedenen, kontemplativen bis hin zum missmutig enttäuschten sowie abhängig und schwachen alten Menschen reichen. Hier liegt eine große Herausforderung an die Gesellschaft: Nicht ein Rezept für alle kann die Devise sein, sondern es gilt mit der Vielfalt an Altersformen institutionell umzugehen und diese Vielfalt auch publik zu machen.

Die biologischen und die psychologischen Entwicklungsprozesse gewinnen im letzten Lebensabschnitt an Dynamik, ähnlich – aber nicht symmetrisch – wie zu Beginn des Lebens. Selbst unsere Sprache ist gegenwärtig dieser Dynamik und Vielfalt noch nicht gewachsen. Wir sprechen vom Alter und dann vielleicht noch vom hohen Alter, aber meist bleibt es bei dieser Zweiteilung. Am Anfang des Lebens dagegen unterteilen wir in Entwicklungsabschnitte von zwei bis drei Jahren (z. B. Säuglingsalter, Kleinkindalter) und dann von fünf und zehn Jahren (z. B. mittlere Kindheit, Adoleszenz). Eine größere Feingliederung (in umgekehrter Reihenfolge) wäre auch für die Gestaltung der letzten 25 bis 30 Jahre des Lebens hilfreich.

Lebenslange Entwicklung und Plastizität

Die Diversifizierung der Altersbilder in den Medien und in unseren Köpfen ist eine sehr wichtige, nicht selten übersehene motivationale Voraussetzung für den Erfolg der Umsetzung von Veränderungen in der Lebenszeitstruktur. Aber man sollte sich neben dem Wollen sicherlich auch für das Können interessieren. Sich also fragen, ob es überhaupt möglich ist, die traditionelle Lebenszeitstruktur zu verändern. Können wir uns denn überhaupt ein Leben lang verändern oder gar bilden?

Aus den Ergebnissen jahrzehntelanger gerontologischer Forschung kann man mit einem überzeugten JA antworten. Ja, wir verändern uns bis ins höchste Alter hinein (Baltes, Staudinger & Lindenberger, 1999). Beispielsweise zeigt sich in unseren Befunden zur Persönlichkeitsentwicklung, dass im Durchschnitt erst im mittleren und höheren Erwachsenenalter so etwas wie soziale Reife erlangt wird, die durch größere emotionale Stabilität, Umgänglichkeit und Verlässlichkeit gekennzeichnet ist (z. B. Staudinger, in Druck). Und wir wissen, dass wir bis ins höhere Alter hinein unsere Wissensbestände bewahren und ausbauen, also lernen, können. Wir haben aber auch verlässliche Befunde über im Durchschnitt stattfindende altersgebundene Abbauerscheinungen im Bereich des Gedächtnisses oder auch des abstrakt-logischen Denkens und der Offenheit für Neues.

Diese Entwicklungen selbst jedoch sind wiederum veränderbar. Man spricht hier von der Plastizität menschlicher Entwicklung. Diese gehört wohl zu den eindruckvollsten und folgenreichsten Befunden der Lebensspannen-Psychologie (Staudinger, Marsiske & Baltes, 1995). Die Plastizitätsforschung zeigt, dass in Interaktion mit den biologischen Rahmenbedingungen menschliche Entwicklung durch Interventionen, wie etwa Trainingsmaßnahmen, in bestimmten Grenzen beeinflussbar ist. Paul und Margret Baltes haben gezeigt, dass die Grenzen der Plastizität mit zunehmendem Alter zwar enger gezogen werden, aber die Plastizität bleibt erhalten, solange keine pathologischen Prozesse, wie etwa die Alzheimer Demenz, vorliegen (z. B. Baltes & Baltes, 1990).

Die Bedeutung der Kontexte für den Entwicklungsverlauf

Die Plastizitätsforschung hat eindrucksvoll nachgewiesen, wie bedeutsam Entwicklungskontexte sind. Da unsere biologische Ausstattung, also der innere Kontext, mit zunehmendem Alter immer fragiler wird, nimmt die Bedeutsamkeit der äußeren Kontexte im Alter noch zu. Beispielsweise können wir aus der kognitiven Trainingsforschung ableiten (z. B. Willis & Margret, 2001), dass der Anregungsgehalt des Lebenskontexts entscheidende Konsequenzen für den Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter hat. Angewendet auf unsere gesellschaftliche Realität heißt das, je weniger man sich während des Erwachsenenalters, dann aber auch im Alter, in anregenden und herausfordernden Kontexten aufhält, umso eher und stärker ist mit kognitiven Einbußen zu rechnen. Ähnlich können wir für die Persönlichkeitsentwicklung ableiten, dass die mit dem Alter abnehmende Offenheit und Flexibilität durch kontinuierlich wechselnde Kontexte bis zu einem gewissen Maße konterkariert werden kann.

Auch der fragiler werdende biologische Entwicklungskontext ist nicht ohne Plastizität. Wir wissen aus der medizinischen Präventionsforschung, dass es möglich ist, die klassischen chronischen Altersleiden wie Herz-Kreislauferkrankungen, Altersdiabetes oder Osteoporose positiv zu beeinflussen (z. B. Fries, 1990). Und es gibt neuere Forschungen aus der Bewegungs- und Neurowissenschaft, die auf eine positive Wechselwirkung zwischen aerobischer Fitness und kognitiver Leistungsfähigkeit verweisen (z. B. Kramer et al., 1999) und die – nach entsprechenden Trainingsinterventionen – eine eindrucksvolle Plastizität des menschlichen Gehirns nach Schlaganfällen aufgezeigt haben (z. B. Miltner, Bauder, Sommer, Dettmers & Taub, 1999).

Einen weiteren wichtigen Entwicklungskontext hatte ich zu Beginn schon mit den Altersbildern einer Gesellschaft erwähnt. Zu den gesellschaftlichen Kontexten gehören aber auch ganz zentral die Gestaltung der Arbeitswelt und der Bildungsinstitutionen, auf die ich gleich zu sprechen komme; und schließlich die Umweltgestaltung im Sinne altersfreundlicher Umwelten, angefangen von der Dauer der Grünphase der Fußgängerampel bis hin zur Entwicklung „intelligenter“ Haushalts- und Arbeitsgeräte oder auch Kleidung.

Schließlich möchte ich noch kurz verweisen auf einen bisher noch eher vernachlässigten Entwicklungskontext, nämlich den der intergenerationellen Beziehungen, also die Möglichkeit zur Interaktion zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Altersgruppen und zwar auch außerhalb der Familie. Unsere gegenwärtig vornehmlich alterssegregiert organisierte Gesellschaft erlaubt es noch nicht, die Potentiale intergenerationeller Beziehungen in ihrer ganzen Breite zu erkunden. Aufgrund entwicklungspsychologischer Befunde ist dabei besonders die Interaktion zwischen nicht aneinander grenzenden Generationen von Interesse, also die Interaktion zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration – aber auch außerhalb der Familie. Es gibt die theoretisch begründete Annahme, dass Kontakte zwischen nicht aneinandergrenzenden Generationen zur Kompensation mancher Entwicklungsdefizite in Jugend und Alter beitragen könnten (Staudinger, 2003).

Als Fazit lässt sich also festhalten, die Kompetenzen für lebenslange Entwicklung und Bildung sind beim Individuum prinzipiell vorhanden, WENN die kontextuellen Gegebenheiten dies entsprechend unterstützen und nicht unterminieren.

Bildung während und für ein langes Leben

Doch was gilt es nun zu berücksichtigen, wenn es um den Bildungskontext geht? Lebenslanges Lernen ist ja inzwischen zum vielgenutzten Schlagwort und teilweise auch zur Worthülse geworden. Das Jacobs Center an der IUB strebt es an, sich von dieser Praxis abzuheben. Am Jacobs Center der IUB werden sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen, so der Psychologie, der Bewegungswissenschaft, der Soziologie, der Ökonomie, der Kommunikationswissenschaft und der Erziehungswissenschaft zusammenfinden, um die individuellen und institutionellen Bedingungen lebenslangen Lernens zu erforschen.

Dabei muss man sich bewusst sein, dass für Viele lebenslanges Lernen den eher bedrückenden und verunsichernden Beigeschmack der lebenslänglichen Verurteilung zum Lernen hat, die denkbar schlechteste motivationale Voraussetzung für erfolgreiche Lernprozesse. Es geht deshalb zum einen darum, diese Unsicherheit und den Unwillen vor allem bei den gegenwärtig schon älteren Kohorten zu antizipieren und konstruktiv aufzunehmen und zum zweiten darum, eine weitere Konnotation lebenslangen Lernens in den Vordergrund zu rücken: Lebenslanges Lernen als die Chance des Lernens für und während eines langen Lebens.

Die mit der verlängerten Lebenserwartung und reduzierten Geburtenrate verbundene Herausforderung für den Einzelnen und die Gesellschaft, bedarf der Unterstützung durch entsprechende Bildungsangebote und einer veränderten Institutionenwelt der Bildung. Es ist allerdings nicht nur die Demographie, die für das Bildungssystem relevant ist. Es sind auch die Herausforderungen einer zunehmend globalisierten und sich immer schneller wandelnden Welt (Beare & Slaughter, 1993). In den westlichen Industriegesellschaften ist eine immer älter werdende Bevölkerung mit immer stärker beschleunigtem Technologie- und Wissenswandel konfrontiert. Das Individuum und die Gesellschaft müssen also nicht nur damit fertig werden, dass gegenwärtige und zukünftige Kohorten beträchtlich länger leben, als alle anderen vor ihnen, sondern sie müssen auch damit umgehen, dass Konzepte wie einmaliger Kompetenzerwerb und weitgehende berufliche Planungssicherheit der Vergangenheit angehören.

Dies bedeutet, dass Bildung nicht mehr nur auf einen Beruf gerichtet und weniger denn je vornehmlich auf Berufsqualifikation konzentriert sein kann (z. B. Dohmen, 1998). Vielmehr ist es notwendig, über kontinuierliche berufsbildende Prozesse nachzudenken und auch neben die Berufsbildung, ganz im Sinne des breiteren Humboldtschen Bildungsbegriffs, die „Entwicklungsbildung“ zu stellen. Mit „Entwicklungsbildung“ meine ich, dass die Gestaltungsmöglichkeiten lebenslanger Entwicklung, die ja eine historisch neue, zeitliche Dimension angenommen hat, dem Einzelnen nicht qua seines Mensch-Seins mitgegeben sind, sondern vermittelt werden müssen. Auch die Vermittlung durch Traditionen und familiäre Sozialisation ist wohl nicht mehr völlig ausreichend, da vorherige Generationen weder mit diesen individuellen noch gesellschaftlichen Umständen Erfahrungen sammeln konnten. Vielmehr ist hier ein gesellschaftlicher Bildungsauftrag entstanden, den es gilt, institutionell und curricular aufzunehmen (Staudinger, 2000).

Es geht dabei um Entwicklungs- und Gesundheitswissen, also Erkenntnisse der Verhaltens- und Sozialwissenschaften darüber, wie sich menschliche Entwicklung gestalten lässt. Es sollen nicht Werte und Lebensziele vorgegeben, sondern Wissen vermittelt werden darüber, dass es Erkenntnisse über Entwicklungsgestaltung gibt, sowie über das nötige Handwerkszeug, um dieses Wissen zu entschlüsseln, und zu wissen, wo man sich über solches Wissen auf dem Laufenden halten kann.

Wird die Entwicklungsbildung nicht Teil der Grundausbildung, besteht die Gefahr, dass in unserer Gesellschaft die Schere des Wissens immer weiter auseinander klafft. Dieses Auseinanderklaffen bedeutet, dass sich Personen, die Zugang zu höherer Bildung haben, Kompetenzen und das Ausgangswissen erwerben, sich weiteres Wissen zur Entwicklungsgestaltung kontinuierlich zugänglich zu machen. Anderen Bevölkerungsschichten dagegen wird dieser Zugang zu entwicklungsrelevantem Wissen verwehrt sein. Schlimmer noch – sie werden gar nicht wissen, dass es solches Wissen gibt. Um diese Bildungslücke zu schließen, wäre es sinnvoll, über Unterrichtselemente nachzudenken, die sich mit dem Wissen beschäftigen, das man in den letzten Jahrzehnten in den Verhaltens- und Sozialwissenschaften über Voraussetzungen und Prozesse gelungener Entwicklung angesammelt hat (Staudinger, 2000).

Man sollte übrigens aus der Tatsache, dass wir uns für und während eines langen Lebens bilden, nicht schließen, dass das erste formale Bildungserlebnis deshalb weniger bedeutsam würde. Das Gegenteil ist der Fall. Der erste Kontakt mit Bildung beeinflusst unser weiteres Zu- und Umgehen mit Bildung. Je besser und „höher“ der erste Bildungsabschluss, desto höher ist die Chance, dass die Motivation und die Kompetenz für weitere Lernphasen im Leben vorhanden ist (Mirowski & Ross, 1998). Hieraus leitet sich ganz zentral ab, dass Anstrengungen für lebenslanges Lernen zu aller erst – auch wenn das auf den ersten Blick widersinnig erscheint – an den ersten 8 bis 10 Schuljahren ansetzen müssen.

Unsere Bildungsinstitutionen, wie Hauptschule, Realschule, Berufsschule, Gymnasium oder Universität haben bisher wenig bis keine Erfahrung mit dem lebenslangen Lernen. Sie setzen nach wie vor hauptsächlich die klassische Idee der formalen Bildung um: Vermittlung der wichtigsten Kulturtechniken und berufsspezifischer Kompetenzen und Fertigkeiten bzw., im Falle der Universität, weitergehende höhere Bildungsanstrengungen, die dann etwa mit 25 Jahren mit einem Universitätsabschluss enden. Hier muss diversi-fiziert werden. Die klassische Bildungsklientel der 6- bis 25-jährigen muss um 40 bis 50 Jahre auf die 6- bis 65-/75-jährigen erweitert werden. Diese enorme Erweiterung des Altersspektrums macht nochmals eindrücklich, vielleicht auch erschreckend, deutlich, vor welchen Herausforderungen unser Bildungssystem steht.

Aus solchen Überlegungen leitet sich eine weitere grundlegende Bemerkung ab. Die Maßnahmen angesichts der demographischen Verschiebungen und des rapiden Wissens- und Technologiewandels in unserer Gesellschaft müssen in der gegenwärtigen Übergangsphase noch auf zwei Zielgruppen gerichtet sein: zum ersten natürlich auf die gegenwärtig älteren Geburtsjahrgänge und zum zweiten aber auch auf die zukünftig alten Kohorten. Die Maßnahmen, die diesen beiden Zielgruppen dienen, überlappen zwar, sind aber nicht identisch.

Es reicht nicht aus, Menschen mittleren und höheren Alters in existierende Bildungsangebote zu integrieren. Dies ist zwar für bestimmte Personen und Bildungsziele möglich, doch für andere nicht. Die Bildungsziele und Bildungseinheiten verschiedener Altersgruppen sind genauso unterschiedlich wie die jeweils effektivsten Lehrformen. Vielmehr müssen sowohl altersspezifische Angebote entwickelt werden, als auch Angebote, die für ein breiteres Altersspektrum in Inhalt und Form geeignet sind. Hier will das Jacobs Center an der IUB einen Beitrag leisten durch die Erforschung und Umsetzung neuer Lehrformate und zeitlicher Taktungen. Weiterhin ist auf die Breitenwirkung von Bildungsanstrengungen für ein langes Leben zu achten, genauso wie auf die Entwicklung eines transparenten Qualitätsmanagements in diesen neuen Bildungsbereichen.

Im Bereich der beruflichen und wissenschaftlichen Weiterbildung können Universitäten beispielsweise ihre Expertise in einem breiten Disziplinenspektrum nutzen, um Studiengänge zu entwickeln und anzubieten, die auf arbeitsmarktrelevante interdisziplinäre Anforderungen mit entsprechenden Studiengängen reagieren. Hier ist der Austausch zwischen den Wirtschafts- und Bildungsakteuren wichtig, damit solche Weiterbildungsangebote mit dem Arbeitsmarktgeschehen abgestimmt werden. Junge Universitäten, wie etwa die IUB, haben hier u. U. Flexibilitätsvorteile gegenüber älteren Universitäten mit lange gewachsenen Strukturen.

Neue Formen der tätigen Produktivität und Alter

Die Veränderung der Bildungsinstitutionen muss mit Veränderungen in der Arbeitswelt Hand in Hand gehen. Eine Gesellschaft mit einem Anteil von gegenwärtig etwa 25 % und demnächst fast 40 % über 60-jähriger sollte, ja muss Möglichkeiten vorsehen, dass alte Menschen, sich tätig produktiv einbringen können. Damit ist nicht nur die Erhöhung des Rentenalters gemeint, also nicht länger in der gleichen Arbeit. Vielmehr geht es um die Schaffung neuer Formen der tätigen Produktivität, die den spezifischen Kompetenzprofilen und Motivsystemen dieser Lebensphase gerecht werden, ähnlich wie dies in dem von den Vereinten Nationen 2002 in Madrid verabschiedeten internationalen Aktionsplan für das Altern aber auch im Bericht der Enquetekommission demographischer Wandel vorgeschlagen und empfohlen wird. (Den Wortlaut des Aktionsplanes und die Relevanz für die ECE-Staaten finden Sie unter www.mica2002.de.) Und ganz in diesem Sinne kann man auch schon bei verschiedenen Unternehmen Beispiele für die Entwicklung altersgerechter Anforderungsprofile entdecken. Wobei solchen Ansätzen gegenwärtig die hohe Arbeitslosigkeit sicherlich noch den nötigen Antrieb entzieht.

Ausblick

Ich fasse zusammen und kehre damit zu meinem Ausgangspunkt zurück: zur demographischen Revolution. Das Alter umfasst gegenwärtig einen Zeitraum von 25 bis 30 Jahren (wenn 60 Jahre der Startpunkt ist). Das Alter lässt sich nicht mehr auf ein „Auslaufen“ dessen, was vorher war, redu-zieren, sondern muss als eigene lang andauernde Lebensphase ernst genommen werden. Es bedarf dazu einer Vervielfältigung der in unserer Gesellschaft herrschenden Altersbilder und der zeitlichen Lebenslaufstrukturen. Es bedarf aber auch eines erweiterten Verständnisses von tätiger Produk-tivität. Die für das Individuum und die Gesellschaft konstruktive Nutzung der vielen gewonnenen Jahre bedarf des Weiteren eines veränderten Verständnisses von Bildung. Bildung während und für ein langes Leben umfasst mehrfache und kontinuierliche Berufsbildung genauso wie Entwicklungsbildung (z. B. Lebensgestaltung, Gesundheitsverhalten).

Schließlich bringen die veränderten demographischen Verhältnisse in unserer Gesellschaft neue Möglichkeiten der intergenerationellen Beziehungen mit sich, die es in ihren Konsequenzen zu erforschen und zu berücksichtigen gilt. Wir müssen als Einzelne umdenken und neu handeln und in vielen Bereichen unserer Gesellschaft umstrukturieren, dann können wir das Alter, unser Alter auch als Möglichkeit und Chance und nicht nur als Problem begreifen.

Es fehlt uns noch systematisches und systemisches Wissen darüber, unter welchen individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen sich unsere gewonnenen Jahre optimieren lassen. Es ist Herrn Jacobs und der Jacobs Foundation zu verdanken, dass wir hier am Jacobs Center der IUB in den nächsten Jahren die Möglichkeit haben werden, Bildungsprozesse während und für ein langes Leben transdisziplinär zu erforschen und existierende sowie neue Forschungsergebnisse in innovativen Ausbildungsgängen an möglichst altersheterogene Bildungskunden weiterzugeben sowie im Bereich des Consulting in Wechselwirkung mit Politik und Wirtschaft angewandte Beiträge zur Optimierung von Bildungs- und Entwicklungsprozessen zu leisten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!



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Author: Kristin Beck. Last updated on 23.06.2005. © 2005 International University Bremen, Campus Ring 1, 28759 Bremen. All rights reserved. No unauthorized reproduction. http://www.iu-bremen.de. For all general inquiries, please call IUB at +49 421 200-4100 or mail to iub@iu-bremen.de.