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Lebenslanger Kompetenzgewinn –
Ein Plädoyer für die Lebensqualität

   

Rede von Klaus J. Jacobs, Präsident der Jacobs Foundation
am 22.10.2003 zur Eröffnung des Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development

Es gilt das gesprochene Wort.

[ Oct 22, 2003]  Lifelong Learning heißt, dass allen Menschen das Recht eigen ist, die Zukunft nach ihren persönlichen Vorstellungen zu gestalten und sich hierfür die nötigen Kompetenzen im Sinne der Entwicklungsbildung anzueignen. Dies heißt gleichzeitig, dass alle Menschen an die Pflicht gebunden sind, als Mitglieder der Gemeinschaft aus eigener Kraft für ihre materiellen und geistigen Bedürfnisse und Ansprüche aufzukommen. In Notfällen und Notlagen gilt die Fürsorgepflicht des Staates.

Lifelong Learning ist die Voraussetzung dafür, dass der Einzelne seine Selbstbestimmung auch dann bewahren kann, wenn sich seine Lebensbedingungen verändern. Durch Lifelong Learning wird der Einzelne zum eigenverantwortlichen Gestalter seiner Zukunft, der den Sozialstaat solidarisch mitträgt und nicht missbräuchlich nutzt. Wer als Jugendlicher das Lifelong Learning beherrscht, ist auf die Schicksalsschläge und Wechselfälle des Lebens vorbereitet. Dem älteren Menschen hilft das Lifelong Learning, beweglich auf neue Herausforderungen zu reagieren und sich das Interesse an seiner Arbeitsleistung zu sichern. Es geht darum, gefragt zu sein und gefragt zu bleiben.

Lifelong Learning ist der Weg zur Menschenwürde und zum Wohlstand. Bereits 1979 betonte der Club of Rome die bahnbrechende Bedeutung des Lifelong Learning für die nachhaltige Lösung individueller und gesellschaftlicher Probleme. Das Lebenslange Lernen steht richtigerweise auf den Agenden der UNO, der OECD, der EU-Kommission und aller maßgebenden Institutionen und Organisationen der Wirtschaft und der Politik. Doch trotz der politischen Aufmerksamkeit und trotz der theoretisch vorhandenen Einsicht muss die praktische Umsetzung des Lifelong Learning als erschreckend defizitär bezeichnet werden. Für die Befreiung aus veralteten Denk- und Handlungsmustern fehlt es an Weitsicht und an der Freude, die Lösung von Problemen zukunftsfähig anzupacken.

Das Jacobs Center ist ein dringend notwendiges europäisches Center an einer neuen, modernen Universität. Wir erwarten bewegende Beiträge aus Forschung und Wissenschaft und hoffen, in besonderer Weise auf Beiträge gegen die dramatische Arbeitslosigkeit in diesem Land und gegen das erschütternde Dahindämmern alter Menschen. Das Jacobs Center weiß um die große Herausforderung, sich in der Wissenschaft zu profilieren und in der Gesellschaft segensreich zu behaupten.

Ich möchte meinen herzlichen Dank Prof. Reimar Lüst, dem Chairman der IUB, und Dr. Fritz Schaumann, dem Präsidenten, übermitteln. Beide haben in Zusammenarbeit mit Prof. Paul Baltes, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, den Grundstein zum „Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development“ gelegt. Ebenfalls herzlich danke ich Bundesminister Wolfgang Clement, dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer, dem Vorstandsvorsitzenden der Jenoptik AG, Alexander von Witzleben, und Klaus Wirtgen für das denkanstoßende Gespräch sowie Frau Prof. Ursula Staudinger für ihr erkenntnisreiches Referat. Der Dank gilt Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Anwesenheit, die mich ehrt und ermutigt.

Aber ich will es nicht beim Dank bewenden lassen, sondern diesen um die Bitte, ja um den Aufruf ergänzen, dass Sie als opinion leaders für das Lifelong Learning einstehen und es in Ihrem Einflussbereich in die überzeugende Praxis umsetzen.

Wir haben gehört, dass in knapp 50 Jahren 40 % der Menschen, doppelt so viele wie heute, 60 Jahre und älter sind. Wir wissen, wie sehr Biologie, Ernährung, Medizin dazu beigesteuert haben, dass wir 30 Jahre länger leben als noch vor 100 Jahren. Wird dieser quantitative Lebensgewinn auch spürbar werden in einem Gewinn an Lebensqualität? Ist es richtig, dass wir bei einer Lebenserwartung von annähernd 90 Jahren während der letzten 30 Jahre ein unproduktives Dasein fristen? Ist die Frührente menschlich vertretbar? Sollen die sehr Alten, deren Zahl in die Millionen zunimmt, in Altersheimen versorgt werden, darauf eingeschränkt, auf das Sterben zu warten?

Bildung kann nicht dann erst beginnen, wenn Menschen arbeitslos geworden sind. Im Gegenteil: das Training der Fähigkeiten ist für jeden Einzelnen dringend erforderlich, aber auch für den Wettbewerbserhalt eines Landes wie Deutschland unumgänglich. Technologie und Wissenswandel verlangen ständige Kompetenzerneuerung als berufsbegleitende Bildung. Sie ist als lebenslanger Prozess des „Lernens des Lernens“ zu begreifen, um auch im Alter noch produktiv zu sein. Mit diesen Stichworten sind die Ziele umrissen, die mit dem Center erforscht und konkretisiert werden sollen.

Entwicklungsbildung ist ein anderer Prozess des Lernens als jener, den wir in der Schule und an Universitäten erfahren haben. Entwicklungsbildung heißt insbesondere, unsere Kompetenz und Individualität zu stärken und dabei die Vielfalt der Biographien zu berücksichtigen. Die Entwicklungsbildung muss getragen werden von den Arbeitnehmern, Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Bundesanstalt für Arbeit.

Ich glaube, wir haben heute genügend Informationen erhalten, um zu konstatieren, dass Entwicklungsbildung eine gesellschaftliche, aber auch eine wirtschaftliche Anstrengung des Landes sein muss. Würden 50 Millionen Menschen in Deutschland jedes Jahr 10 Tage lang in einem Acht-Stunden-Programm geschult, so würde dies einem Kostenrahmen von 100 Milliarden Euro entsprechen. Doch es handelt sich nicht um Ausgaben, sondern um Investitionen. Denn die Arbeitslosigkeit würde reduziert, die wirtschaftliche Kompetenz Deutschlands gefördert, die Produktivität im Alter erhöht, die Einwanderungsquote aus fernen Ländern möglicherweise gesenkt und insbesondere auch die Altersversorgung erheblich entlastet.

Das Jacobs Center for Lifelong Learning and Institutional Development ist bereit, Modelle zu entwickeln, Implementierung zu initiieren und eine wirkungsvolle Qualitätskontrolle mit Zertifikaten durchzuführen. Nun gilt es, Gesellschaft und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu bewegen, zu motivieren, dieses Projekt an die Hand zu nehmen und es als Aufgabe aller erwachsenen Menschen in Deutschland zu betrachten.

Ich möchte mich zum Schluss bei allen bedanken, die geholfen haben, den Start zu lancieren. Wir hoffen, ein neues Kapitel in der Beziehung zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik schreiben zu dürfen, dem Ziel verpflichtet, den erweiterten Lebensraum an Jahren mit Lebensqualität zu bereichern.

Hermann Hesse hat die Überlegungen, die ich ihnen vermitteln wollte, in dem wunderschönen Gedicht „Stufen“ zum Ausdruck gebracht:

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.



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Author: Kristin Beck. Last updated on 23.06.2005. © 2005 International University Bremen, Campus Ring 1, 28759 Bremen. All rights reserved. No unauthorized reproduction. http://www.iu-bremen.de. For all general inquiries, please call IUB at +49 421 200-4100 or mail to iub@iu-bremen.de.