INTERNATIONAL UNIVERSITY BREMEN

Festrede von Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung

   

am 25.3.2003 zum 80. Geburtstag von Professor Dr. Reimar Lüst

[ Mar 25, 2003]  Poetische und physikalische Weltbilder

Mir wurde der Auftrag erteilt, eine Festrede zu halten, in der ein allgemein interessierendes Thema auf Reimar Lüst hin abgewandelt wird. Ich hoffe, dies ist mir gelungen, wenn ich jetzt vier Sterne aufgehen lasse: den Stern der Geburt, den Stern der Rettung, den Stern der Gemeinschaft, in dessen Anblick sich die Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt wiedererkennen, und den Stern der Wissenschaft, der uns mit Zukunftshoffnung voranstrahlen sollte. Am Ende dieses Textes stehen wieder alle Sterne vollzählig überm Land.

1. Der Stern der Geburt

Wer im Jahre 1923 geboren ist, teilt mit seinen Zeitgenossen ein Schicksal, das von den Historikern einmal als „ungewöhnlich“ bezeichnet werden wird. Dieses Jahr 1923 war (nicht nur wegen der Geburt von Reimar Lüst) ein denkwürdiges Jahr. Es war ein Schicksalsjahr Deutschlands und Europas. 1923 leitete Gustav Stresemann, „Weimar’s greatest statesman“ (wie der Humboldtianer Jonathan Wright soeben verdeutlichte), „the exceptional political figure of his time“, als Reichskanzler 100 Tage lang die Geschicke der ersten deutschen Republik in ihrer tiefsten Krise. Anschließend gab er bis zu seinem vorzeitigen Tod (1929) Europa als deutscher Außenminister Hoffnung auf Frieden und Einigung. „... as long as he was alive“, heißt es in Jonathan Wright’s 2002 erschienener Biographie, „Stresemann offered Germans a clear alternative to the Nazis.“

Das Jahr 1923 hat einer ganzen (noch weitgehend im Dunkeln liegenden) literarischen Strömung, der Inflationsliteratur, Profil und Problemtiefe gegeben. Herbert Schlüter nannte damals eine Novelle einfach „Das Jahr 1923“. Er nahm, Klaus Mann zufolge, „die Jahreszahl als Symbol für einen Zustand, und es gelang ihm bemerkenswert gut, die makabre und angeregte Atmosphäre dieses Zeitabschnittes festzuhalten ...“ Zu Beginn dieses denkwürdigen Jahres betrug der Wert des Dollars 1.800 Mark, am Ende des Jahres, im Augenblick der Währungs-Stabilisierung, betrug er 4,2 Billionen Mark. Klaus und Erika Mann, die damals zu Exzessen neigenden 17 und 18 Jahre alten Kinder von Thomas und Katja Mann, ließen sich zum Beispiel in diesem Jahr in einem Münchner Nachtlokal ihr Weinglas nicht nur einmal, sondern zweimal füllen. Die Rechnung betrug dann 120.000 Mark. Die jungen Leute hatten aber nur 50.000 Mark bei sich und mußten einen Freund anrufen, daß er sie auslöste. Reimar Lüst wird, wie ich, in seiner Kindheit mit den wertlosen Banknoten der Papiermark gespielt haben, auf denen phantastische Summen standen. Sie wurden den Kindern überlassen, weil man sich schon zu Zeiten ihrer Gültigkeit nichts damit kaufen konnte.

Die Stabilisierung der Mark gelang auf der Basis 1 Rentenmark = 1000 Milliarden (also 1 Billion) Papiermark. Das geschah am 15. November 1923. Acht Tage später (am 23. November) versagte der Reichstag dem Kanzler Gustav Stresemann das verlangte Vertrauensvotum. Wilhelm Conrad Röntgen, der im Februar 1923 in München starb, hatte seiner Universität, eben jener, in deren Hochschulrat Reimar Lüst Mitglied ist, also der Universität Würzburg, die 50.000 Kronen seines Nobelpreises vermacht. Die Universität konnte das Erbe wegen der Geldentwertung nicht antreten. Der Stadt Weilheim in Oberbayern hatte Röntgen sein restliches Geldvermögen vererbt. Es betrug im Februar 1923 fast 340 Billionen Papiermark und war im Augenblick der Stabilisierung damit kaum noch das Papier wert, auf das es gedruckt war. Wer noch mit Goldgeld bezahlt hat, wird, trotz Katastrophen, Krieg und Geldentwertung, von einem ganz anderen Gefühl für Sicherheit durchs Leben getragen als Menschen, welche den Wert des Geldes nie auf der Hand verspürten. Wer die Entwertung der bürgerlichen Vermögen und damit die Zerstörung des bürgerlichen Wertebewußtseins gleichsam in die Wiege gelegt bekam, wird lebenslang auf der Suche nach einem eigenen Bild der Welt, des Menschen und des Kosmos sein.

Der Schock der galoppierenden Inflation hat sich tief ins kollektive Gedächtnis des deutschen Bürgertums eingeprägt. Die heute wieder keimenden Ängste vor Bankenruin, Versicherungspleiten und Börsen-Crash wurzeln in den tradierten Ängsten vor Inflation und Weltwirtschaftskrise, den Nährböden des politischen Radikalismus. Damals, in den angeblich „goldenen“ zwanziger Jahren, die man in den USA zutreffender die „roaring twenties“ nannte, wurden die kleinen Vermögen vernichtet, wurde das Kleinbürgertum proletarisiert. Nach Krieg und Niederlage war die Inflation der dritte schwere, kaum noch zu ertragende Schlag, der die Menschen in Deutschland traf. Kein Wunder, daß die Inflation nicht nur ein ökonomisches Ereignis war, sondern eine alle Lebensbereiche erfassende Katastrophe. Sie zeitigte geistige Folgen ebenso wie wirtschaftliche und soziale Konsequenzen. Seiner Jugend, so schrieb der 1906 geborene Klaus Mann, der ein prototypischer Angehöriger der Inflations-Generation war, habe der sichere Boden gefehlt, den die Eltern noch gehabt hätten. „Sowohl geistig-moralisch als wirtschaftlich hatten wir gar nichts, womit wir rechnen konnten. Auf irgendwelche ethischen Voraussetzungen war ebensowenig zu bauen, wie auf die Zinsen irgendwelcher Vermögen.“ Es bedurfte eines ungewöhnlichen Gottvertrauens, in einer solchen Zeit Kinder zu bekommen. Die Pastorenfamilie Lüst in Barmen hatte es. Am 25. März 1923, gleich nach Frühlingsbeginn, auf dem Höhepunkt der Geldentwertung, wurde in Barmen ihr Sohn Reimar geboren.


2. Der Stern der Rettung

Warum ich die Geschichte der Inflation im Detail erzähle? Wenn der Mensch ein Produkt aus Zufall und Notwendigkeit ist, so bedeutet der Zufall des Geburtsjahres eine Notwendigkeit des Lebenslaufes, der wir nicht entkommen. Wer 1923 geboren wurde, konnte der Diktatur, dem Krieg und seinen Folgen nicht ausweichen, Im Jahr, als Adolf Hitler Reichskanzler wurde, kam er zehnjährige Reimar Lüst in das Humanistische Gymnasium in Kassel; sechzehn Jahre war er alt, als Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Mit siebzehn Jahren meldete er sich freiwillig zur Kriegsmarine und tat Dienst als Leutnant (Ingenieur) auf einem Unterseeboot. Es wurde 1943 versenkt. Das Glück der Rettung aus dem Atlantik und des wiedergeschenkten Lebens muß Reimar Lüst immer gegenwärtig gewesen sein. Anders nämlich kann ich mir seinen Lebensmut und seine ansteckende Lebenszuversicht kaum erklären.

Im Dekadenschritt also hat das Schicksal dieses Leben schon in Kindheit und Jugend geprägt, aber bereits in den frühen Jahren wurden Kreise geöffnet, die sich spät geschlossen haben. Im Jahr von Reimar Lüsts Geburt hat Hermann Oberth mit dem Buch „Die Rakete zu den Planetenräumen“ die wissenschaftlichen Grundlagen für die Weltraumfahrt gelegt. Reimar Lüst wird sich als Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation ESA (1984 – 1990) gelegentlich auch dieses Zufalls gefreut haben. Der U-Boot-Fahrer als Chef von Astronauten? Wo doch zwischen Luftwaffe und Marine, zwischen Fliegern, Matrosen und Schiffsoffizieren traditionell Spottbeziehungen herrschen?

Ich erinnere mich an eine Chinareise mit dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, auf der Ulf Merbold, der Astronaut, den in der ganzen Pracht seiner Marineuniform einherschreitenden Verbindungsoffizier des Bundespräsidenten gesehen und spontan ausgerufen hat: „Schau, schau, ein Fischkopf!“ Er hat sich sogleich (aber zu spät) selbst den Mund zugehalten, denn neben ihm stand der von ihm verehrte Reimar Lüst. Nur für einen Augenblick hatte der Astronaut vergessen, daß auch dessen Ursprünge bei der Marine lagen. Reimar Lüst aber, der sich an diese fröhliche Reise sicher gerne erinnert, meinte ganz ungerührt, ihm habe die Lehrzeit auf dem U-Boot die Arbeit im Management der Weltraumfahrt erleichtert. Er habe den Raumfahrern der ESA, die alle ganz gierig darauf gewesen seien, Flieger zu werden, den Pilotenschein zu machen, geraten, auf einem U-Boot zu trainieren, weil die Verhältnisse dort ähnlich seien wie in einem Raumschiff. Hochtechnologisch und eng und lebensgefährlich, denke ich mir, geht es in beiden „Schiffen“ zu.

Es war eine europäische Institution, die Reimar Lüst 1984 zu ihrem Generaldirektor machte, nachdem er schon von 1962 bis 1964 Wissenschaftlicher Direktor der European Space Research Organisation gewesen war. Dies waren Ämter in einem neuen Europa, das aber schon während seiner Kindheit grundgelegt worden war; das neue Europa erinnerte sich nämlich an das Bündnis, das Briand, Chamberlain und Stresemann geschlossen hatten, ein Hoffnungsbündnis, welches 1926 mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet worden war. Stresemanns und Briands Europa ist durch Nationalismus und Rassismus blutig zerstört worden und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Adenauer, de Gasperi und Schuman wieder erweckt.

Gustav Stresemann aber hat in seiner letzten Rede vor dem Völkerbund am 9. September 1929 (es war das Jahr, in dem Reimar Lüst in die Schule gekommen ist) eine so visionäre Europa-Rede gehalten, daß die dort verkündete Vision des europäischen Wirtschafts- und Währungsraumes erst 70 Jahre später Wirklichkeit werden konnte. „Sie sehen neue Grenzen“, rief er, das durch den Krieg balkanisierte Europa beklagend, aus, „neue Maße, neue Gewichte, neue Usancen, neue Münzen, ein fortwährendes Stocken des Verkehrs. Ist es nicht grotesk, daß Sie auf Grund neuer praktischer Errungenschaften die Entfernung von Süddeutschland nach Tokio um 20 Tage verkürzt haben, sich aber in Europa selbst stundenlang mit der Lokomotive irgendwo aufhalten müssen, weil eine neue Grenze kommt, eine neue Zollrevision stattfindet, als wenn das Ganze ein Kleinkrämergeschäft wäre, das wir in Europa innerhalb der gesamten Weltwirtschaft noch führen dürfen? Neue Industrien werden aus nationalem Prestige begründet, sie müssen geschützt werden, müssen sich selbst neue Absatzgebiete suchen und können oftmals kaum im eigenen Lande diejenigen Absatzmöglichkeiten finden, die ihnen ihre Rentabilität sichern. Wo bleibt in Europa die europäische Münze, die europäische Briefmarke?“

Der Zufall des Geburtsjahres also eröffnet Lebenskreise, welche uns im Rückblick zumindest ahnen lassen, wie sehr wir in all diesen Jahrzehnten in Gottes Hand gewesen sind. Wir streiten heute, seit der Entzifferung des menschlichen Erbgutes, erneut um die Anteile, welche Zufall und Notwendigkeit an der Evolution des Menschen haben. Der Biochemiker Jacques Monod hat bekanntlich in einem berühmt gewordenen Buch „Le hasard et la nécessité“ (1970) behauptet, der Ursprung des Lebens und der Prozeß der Evolution seien bloße Produkte des Zufalls. Der Mensch müsse aus seinem tausendjährigen Traum erwachen, um „seine Verlassenheit, seine totale Fremdheit zu erkennen“.

Nun aber scheint es, als seien durch Genom- und Hirnforschung die Gewichte wieder ein wenig auf die Seite der Notwendigkeit gerückt, als werde das tradierte Gespräch zwischen Biochemikern und Physikern wieder stärker von der physikalischen Weltsicht bestimmt. Die Physiker aber waren schon immer, vermutlich seit der Romantik, seit Johann Wilhelm Ritter, sicher aber seit Max Planck und Albert Einstein, seit Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, durch die Ordnung und die Schönheit beeindruckt, die sie im Kosmos und im Inneren der Materie gefunden haben.

Umberto Eco, ein dezidierter Agnostiker, der alle den menschlichen Kulturen gemeinsamen Vorstellungen auf die Position „unseres Körpers im Raum“ bezogen hat, meinte (1996) im Gespräch mit Carlo Maria Martini sogar: Selbst angenommen, „daß der Mensch durch einen Irrtum des täppischen Zufalls auf der Erde erschienen sei, nicht nur seiner Sterblichkeit ausgeliefert, sondern auch dazu verurteilt, ein Bewußtsein zu haben, mithin also das unvollkommenste aller Wesen“; dies unterstellt, würde er [Eco] doch, wäre er „ein Reisender aus einer fernen Galaxie“, die „theogone Energie“ des Menschen bewundern „und würde diese jämmerliche und niederträchtige Spezies, die so viele Greuel begangen hat, allein dadurch als erlöst betrachten, daß sie es geschafft hat, sich zu wünschen und zu glauben, [die Geschichte ihres Falles und ihrer Erlösung] ... sei Wahrheit“.

Solche Nachrufe auf die zugleich geliebte und gehaßte Menschheit häufen sich in der Literatur an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Es herrscht in ihr das Gefühl, daß die Menschheit an einem Ende (und zugleich an einem neuen Anfang) angekommen sei. Sie scheint dort angekommen zu sein, wo sich der Begriff und die Erfahrung des Menschen, bestimmt durch Wünschen und Begehren, in eine ungewisse Zukunft verabschieden. Sie ist dort angekommen, wo der Streit um Zufall oder Notwendigkeit in den Willen zur technischen Optimierung des Menschen durch den Menschen mündet.


3. Der Stern der Gemeinschaft

Nicht nur Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Hildesheimer und Umberto Eco, auch Michel Houellebecq hat in seinem Roman „Les particules élémentaires“ (1998) eine Abschiedselegie auf die uns nahe und vertraute Erfahrung des Menschen geschrieben. Dieser Roman beginnt am 14. Dezember 1900, als Max Planck „zum ersten Mal in einem Vortrag mit dem Titel ‚Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum‘ in der Berliner Akademie den Begriff Energiequantelung [benutzte], der in der Weiterentwicklung der Physik eine entscheidende Rolle spielen sollte“.

Houellebecq’s Roman endet im März des Jahres 2029 zu dem Zeitpunkt, da die Mutation des Menschen vollendet ist, da das erste Wesen einer neuen intelligenten Spezies erschaffen wird, „die der Mensch ‚ihm zum Bilde, zum Bilde des Menschen‘ schuf“. Dazwischen aber liegt – in dieser literarischen Vision – unser Leben, das Leben der letzten Generation des Menschen, definiert als „jene schmerzbeladene, nichtswürdige Spezies, die sich kaum vom Affen unterschied und dennoch so viele edle Ziele angestrebt hat. Jene gequälte, widersprüchliche, individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und an die Liebe zu glauben“.

Die (in der Literatur verbreitete) Theorie sich schließender Entwicklungskreise, die Vermutung eines Übergangs zu der vom Menschen technisch herbeigeführten Mutation des Menschen, entspringt einem Angstgedächtnis, welches seit 50 Jahren, seit der klassisch gewordenen Beschreibung der Doppelhelix durch Crick und Watson, parallel zur stürmischen Entwicklung der Molekularbiologie und ihrer Anwendungsformen in Bio- und Gentechnologie, langsam angewachsen ist. Dieses Angstgedächtnis speist sich auch aus der Erinnerung an die Folgen der Uranspaltung, so daß es kaum verwundert, wenn sich die Verantwortungsdebatte noch immer stärker an der modernen Physik als an jener Biologie entzündet, die erst vor wenigen Jahrzehnten die Grenzen zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit ihrer Produkte überschritten hat.

Der Welterfolg von Michael Frayn’s Drama der Beziehung von Werner Heisenberg zu Niels Bohr, „Copenhagen“ (1998), ist ein Beleg dafür. Reimar Lüst weiß, wovon ich spreche, denn er hat 2001, im Jahr von Werner Heisenbergs 100. Geburtstag, bei dem Bamberger Humboldt-Kolloquium lebhaft an der Diskussion mit Michael Frayn und seinen Schauspielern über die historische oder die poetische Wahrheit in der Einschätzung der modernen Physik teilgenommen. Ihm schien der spielerisch-ästhetische Umgang mit den Motiven für Heisenbergs und Weizsäckers Besuch bei Niels Bohr in Kopenhagen, 1941, zu weit weg von seiner Erfahrung und seiner Erinnerung der historischen Realität.

In der Rede zum 90. Geburtstag seines Lehrers Carl Friedrich von Weizsäcker hat Reimar Lüst deshalb in all diesen Debatten um die Konstruktion der Atombombe und um Heisenbergs und Bohrs und Weizsäckers Anteil daran, den Hinweis darauf vermißt, „daß Niels Bohr 1951 nach Göttingen kam und dabei Werner Heisenberg und das Institut besuchte. Aufgeregt wie ein kleiner Schüler [heißt es in dieser erinnerungsträchtigen Rede] ermahnte uns Heisenberg, nicht zu helfen, wenn [Niels Bohr] seine Pfeife anzündete. Dies war ein Ritual bei einem Vortrag, bei dem er mindestens fünfzig Streichhölzer vergeblich brauchte, um die Pfeife anzuzünden. Von einem Zerwürfnis zwischen Niels Bohr, Heisenberg und [Weizsäcker] war damals nichts zu spüren“.

Somit hat Reimar Lüst selbst noch die freie Luft des gemeinschaftlichen Denkens geatmet, in der Atmosphäre jenes Abenteuers der theoretischen Physik gelebt, die im Umkreis von Niels Bohr und seinen Schülern herrschte und von dort aus in das ganze Fach ausstrahlte. Vielleicht hat sie Michel Houellebecq, der diese Team-Atmosphäre in Gegensatz zur Einsamkeit seines biologischen Denkers setzt, am besten beschrieben:

„Wenn Niels Bohr als der eigentliche Begründer der Quantenmechanik angesehen wird, beruht das nicht nur auf seinen persönlichen Entdeckungen, sondern vor allem auf der außerordentlich schöpferischen Atmosphäre, dem Klima intellektueller Aufgeschlossenheit, geistiger Freiheit und freundschaftlicher Beziehungen, das er um sich herum zu erzeugen verstanden hatte. Das Institut für theoretische Physik in Kopenhagen, das Bohr 1919 gegründet hatte, sollte zu einem Treffpunkt aller jungen europäischen Physiker werden. Heisenberg, Pauli und Born verbrachten dort ihre Lehrjahre.

Bohr, der ein wenig älter war als sie, diskutierte mit ihnen stundenlang jede Einzelheit ihrer Hypothesen mit einer einzigartigen Mischung aus philosophischem Scharfsinn, Wohlwollen und logischer Strenge. Er war von fast pedantischer Genauigkeit und duldete keinerlei annähernde Erklärung bei der Auswertung der Versuche; aber auf der anderen Seite sah er keine neue Idee von vornherein als verrückt, kein überliefertes Konzept als unantastbar an. ... Seit den Anfängen der griechischen Philosophie hatte es nichts Vergleichbares gegeben.

In diesem außergewöhnlichen Kontext wurden in den Jahren 1925 bis 1927 die grundlegenden Begriffe der ‚Kopenhagener Deutung‘ formuliert, die die bestehenden Kategorien Raum, Kausalität und Zeit weitgehend aufhoben.“ Ein Hauch dieser Atmosphäre wehte in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die Lageruniversität eines texanischen Gefangenencamps. Dort las unmittelbar nach dem Krieg der junge Reimar Lüst Carl Friedrich von Weizsäckers 1943 erschienenes Buch „Zum Weltbild der Physik“ (das im Jahr von Weizsäckers 90. Geburtstag in 14. Auflage gedruckt wurde). Reimar Lüst war „hingerissen“ von dem, was er über „Die Physik der Gegenwart und das physikalische Weltbild“ las. Noch 2002 gesteht er, nicht alles verstanden zu haben. Doch heißt es in der Geburtstagsrede für Weizsäcker 2002: „... eines wußte ich – damals ein 22jähriger U-Bootfahrer mit Notabitur – mit Bestimmtheit: Ich wollte bei Ihnen studieren.“


4. Der Stern der Wissenschaft

Ein Weltbild, meinte Weizsäcker in dem berühmtesten seiner Bücher, sei mehr als eine wissenschaftliche Theorie; „es soll, wenigstens symbolisch, das Ganze der Wirklichkeit umfassen.“ Zum Ganzen der Wirklichkeit aber gehört auch das Leben, nicht nur die Materie, so daß der alte Streit zwischen den klassischen Naturwissenschaften, zumal der zwischen Physik und Biologie, in dieser Weltbild-Debatte wieder aufflammt. Houellebecq, welcher der festen Überzeugung ist, daß die Biologie nur im Bündnis mit der Physik ihre wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung entfalten könne, läßt seine Figuren über diese Verbindung nachdenken.

„Sobald man wirklich die atomaren Grundlagen des Lebens untersuchen würde, würden die Fundamente der gegenwärtigen Biologie gesprengt werden“, heißt es in den „Elementarteilchen“. Die moderne Molekularbiologie hat der Franzose dabei eher satirisch beschrieben. „Entgegen der unter romantischen Zeitgenossen weit verbreiteten Vorstellung vom Forscher als einem Rimbaud des Mikroskops“, heißt es in Houellebecq’s bissiger Charakteristik, „sind die Molekularbiologen meistens rechtschaffene, nicht sonderlich geniale Techniker, die Le Nouvel Observateur lesen und davon träumen, ihren Urlaub in Grönland zu verbringen.“ Das ist polemisch, aber nicht allzu weit von Weizsäckers sachlicher Prophezeiung entfernt, daß „ein immer engerer Zusammenschluß mit der Physik“ die Zukunft der Biologie sein werde.

So findet sich für einen jungen und suchenden Naturwissenschaftler in Weizsäckers Weltbild-Buch kein Anreiz, der Biologie besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Doch fand Reimar Lüst darin die ihn seither tragende Zuversicht, daß „die neue Physik ... das erste geschlossene, mit mathematischer Exaktheit fassbare System einer Naturerkenntnis jenseits der Grenzen des mechanistischen Weltbildes“ sei.

Da Weizsäcker sein neues Weltbild unter dem Begriff der Atom- und Kernphysik entwickelt hat, ist es kein Wunder, daß Reimar Lüst diese spezielle Physik bei Weizsäcker studieren wollte. Von ihm aber wurde er auf ein Thema über die Entstehung des Planetensystems angesetzt. Zu Reimar Lüsts 60. Geburtstag hat Carl Friedrich von Weizsäcker gestanden, daß er damals – im März 1949 – dem jungen Diplomphysiker Reimar Lüst angetan habe, was er einst von seinem „hypothetischen Doktorvater gefürchtet hatte, ich nötigte ihn, über das Planetensystem zu arbeiten. Er sollte den Drehimpuls-Transport berechnen, dessen Ausrechnung mir zu schwer gewesen war. Ich glaube [fügte er hinzu], daß er das Problem gelöst hat.“

So ist aus dem Atom- und Quantenphysiker Reimar Lüst ein Astrophysiker geworden, der es noch mit 80 Jahren nicht bereut, von seinem Lehrer damals zur Planetologie genötigt worden zu sein. Schließlich konnte er nur durch diesen Zufall (oder war es Notwendigkeit?) 1989 „Space Personality of the Year“ werden, trägt nur durch diese Lebensentscheidung seit 1991 der Planetoid 4386 den Namen „Lüst“.

Das Max Planck-Institut für Physik in Göttingen war in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wenn man Reimar Lüst folgt, selbst eine Art von Planetensystem; oder sollte ich besser sagen: ein „Kunstwerk der Geselligkeit“? Vielleicht ist der poetologische Begriff der bessere, denn in diesem Institut gab es nicht nur ein Zentralgestirn. Da gab es Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Max von Laue, Ludwig Biermann, um die das muntere Doktorandenvolk kreiste. Da gab es Familienanschluß und am Donnerstag die „Bibelstunde“, Weizsäckers philosophisches Abendseminar, in dem illustre und anregende Gäste sprachen. „Für uns Junge“, schrieb Reimar Lüst, „waren die fünfziger Jahre am Göttinger Institut eine herrliche Zeit. Wir konnten unbeschwert unsere wissenschaftlichen Arbeiten verfolgen und scherten uns nicht groß um unsere Zukunft. Was aus uns werden sollte, wußte keiner.“

Offenkundig hat ein guter Stern über den Wegen der Menschen gewacht, die in der Dachkammer des Göttinger Instituts wöchentlich über die Entstehung von Sternen und Galaxien, über Turbulenz und Stoßwellen, über die Theorie des Peitschenknalls und viele andere oft kaum diskutierbar erscheinende Phänomene diskutierten. Damals lernte der junge Doktorand die Atmosphäre des anregenden wissenschaftlichen Gesprächs, der nächtelangen Diskussionen, des abenteuernden, in den Weltraum ausgreifenden Denkens kennen. Diese Atmosphäre hat ihn lebenslang begleitet, sie hat er weiterzugeben versucht.

Doch scheint mir, daß er von seinem Lehrer noch mehr ins wissenschaftliche Leben mitgenommen hat, dessen Umgang mit Anschauung und Anschaulichkeit in der Welt des Nicht-Sichtbaren, in der Welt des „Nichtanschaubaren“. Da uns nach dem Verzicht auf das mechanische Weltmodell nur die abstrakte Mathematik von Schrödingers Psi-Funktion geblieben ist, wendet die moderne Naturwissenschaft alle Anstrengung daran, „Erfahrungen zu machen, die der ursprüngliche Mensch nicht machen kann, und aus ihnen noch Gegenstände und Zusammenhänge zu erschließen, die vermutlich keiner unmittelbaren Erfahrung je zugänglich sein werden. ... [wir schaffen uns, sagt Weizsäcker] mit Höchstspannungsanlagen und mit Ultramikroskopen eine Welt früher unbekannter künstlicher Erlebnisse“.

Doch selbst solche Erlebnisse sind gekleidet in Formen der Anschauung, auch wenn wir uns eingestehen müssen, daß wir „diese anschaulichen Erscheinungsformen des Wirklichen durch unser Experiment selbst erst erschaffen haben“, sie also nur gültig sind „in bezug auf das Experiment, durch das sie gewonnen“ wurden. Um es verkürzt zu sagen: Das Unanschauliche experimentell anschaubar zu machen, uns unsichtbar Bestimmendes sichtbar zu machen, dem galten die berühmten Versuche Reimar Lüsts, mit einer Bariumwolke, die durch eine Scout-Rakete in die Stratosphäre geschossen wurde, das Magnetfeld der Erde sichtbar zu machen. Das gelang zuerst 1963 in der Sahara. Die Experimente wurden fortgesetzt in Virginia, bei Fort Churchill am magnetischen Nordpol (an der Hudson-Bay), am geographischen magnetischen Äquator im Süden Indiens und anderswo.

Und dem Abenteuer der Entdeckung des Unsichtbaren war – sie hören es an den Ortsangaben – das Länder- und Kulturen-Abenteuer der wissenschaftlichen Globetrotter eingeschrieben. Für diese Versuche brauchte man nach Möglichkeit fahrbare, bewegliche Abschußrampen. Zum Glück gab es da die Deutsche Versuchsanstalt für Luft und Raumfahrt (so hieß damals die DLR). Diese stand in Geschäftsbeziehungen mit einem Herrn Klett. Dieser beschaffte aus Beständen der amerikanischen Entwicklungshilfe eine preiswerte Lastwagen-Flotte, mit deren Hilfe Reimar Lüsts Raketen u.a. in Lappland starteten. Außer rasch bereinigten Schwierigkeiten mit einem Sippenältesten der Lappen, in dessen Rentier-Herde eine der Raketen gefallen war, habe es dabei – wird erzählt – keine größeren Unfälle gegeben. Die Geschäftsbeziehungen mit Herrn Klett wurden von der DVLR leider abgebrochen, als er einen Flugzeugträger second hand anzubieten hatte.

Reimar Lüst aber ist im Denken und im Leben der dem Wagnis zugeneigte Entdecker geblieben, der er seit der Lehrzeit im U-Boot und in der texanischen Lageruniversität immer schon gewesen ist. Wir haben nicht viele Wissenschaftler dieses Schlages, phantasiereiche Wissenschafts-Organisatoren dieser Art noch weniger.


Lieber Herr Lüst,

zur Feier Ihres Geburtstages haben heute drei Institutionen eingeladen, die Ihnen viel zu verdanken haben, wie viel – kann ich nicht aufzählen, ohne alle Stationen Ihres Lebens in allen Erdteilen nachzuzeichnen. Mit der Max Planck-Gesellschaft, für die Sie auf allen Ebenen, bis hin zum Amt des Präsidenten, gearbeitet haben; mit Ihrem jüngsten „Kind“, der International University Bremen, an der, wie ich weiß Ihr Herz hängt, so daß Sie sich wünschten, alle heute versammelten Freunde sollten sehen, was hier geschaffen wurde und daß dies alles wert ist, erhalten zu werden; mit MPG und IUB also vereint sich die Alexander von Humboldt-Stiftung, deren Präsident Sie zehn Jahre lang waren und deren Ehrenpräsident Sie heute sind.

Und diesen drei Institutionen schließen sich viele Menschen aus nah und ferne an, um ein einziges Wort zu sagen. Es kommt von Herzen, es kann nicht gesteigert werden, hat keinen Komparativ und keinen Superlativ, es ist ein schlichtes, kräftiges „Danke“. Danke, lieber Herr Lüst, für Mühe und Arbeit, für Ermutigung und Dasein, für guten Rat und tätige Hilfe, für Interesse und Vorbild, für den Willen, Denken und Leben nicht zu trennen.

So erlauben Sie mir bitte noch ein persönliches Wort, ein Wort des Germanisten, der versucht hat, für Sie zu Ihrem 80. Geburtstag ein aussagekräftiges Gedicht zu finden, das in Ihrem Geburtsjahr geschrieben (oder wenigstens beendet) wurde. Es sind nicht Rilkes „Duineser Elegien“, nicht die „Sonette an Orpheus“, die beide 1923 erschienen sind. Es ist ein uns allen durch die Schullektüre bekanntes Gedicht von Hans Carossa, das mich jedenfalls seit meinen Kindertagen begleitet. Es ist trotz der Eingangszeile kein Gedicht für den Lebensabend, denn es spricht von dem in Jugend und Alter immer wachen Herzen. Es ist ein Gedicht der Lebenswanderschaft, des Trostes und der Gemeinschaft, der Gastfreundschaft unter den Menschen. Es ist kein Gedicht des Krieges, sondern eines des Friedens und der Hoffnung, so daß ich es Ihnen für die kommenden Lebensjahre auf den Weg geben möchte:

Der alte Brunnen

Lösch aus dein Licht und schlaf! Das immer wache
Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt,
Wer aber Gast war unter meinem Dache,
Hat sich stets bald an diesen Ton gewöhnt.

Zwar kann es einmal sein, wenn du schon mitten
Im Traume bist, daß Unruh geht ums Haus,
Der Kies beim Brunnen knirscht von harten Tritten,
Das helle Plätschern setzt auf einmal aus.

Und du erwachst, - dann mußt du nicht erschrecken!
Die Sterne stehn vollzählig überm Land,
Und nur ein Wandrer trat ans Marmorbecken,
Der schöpft vom Brunnen mit der hohlen Hand.

Er geht gleich weiter, und es rauscht wie immer.
O freue dich, du bleibst nicht einsam hier.
Viel Wandrer gehen fern im Sternenschimmer,
Und mancher noch ist auf dem Weg zu dir.“

Das ist mein Wunsch für Sie zum Geburtstag, daß Sie sich dessen tröstlich gewiß sein mögen: und mancher noch ist auf dem Weg zu dir.



Druckversion der Rede
PDF-Datei (146 KB)

more info »

 


Author: --. Last updated on 23.06.2005. © 2005 International University Bremen, Campus Ring 1, 28759 Bremen. All rights reserved. No unauthorized reproduction. http://www.iu-bremen.de. For all general inquiries, please call IUB at +49 421 200-4100 or mail to iub@iu-bremen.de.