INTERNATIONAL UNIVERSITY BREMEN

Laudatio von Bundespräsident Prof. Dr. Richard von Weizsäcker zur Ernennung von Prof. Dr. Reimar Lüst zum Ehrenbürger der Freien Hansestadt Bremen am 29.11.2001 im Bremer Rathaus

   

Lieber Herr Bürgermeister,
lieber Herr Lüst,
liebe Frau Grunenberg,
verehrte Gäste und Teilnehmer dieser schönen Feier,

[ Dec 10, 2002]  es ist für mich eine Freude und Ehre heute dabei zu sein, auch wenn mir eigentlich die Qualifikation für die Aufgabe fehlt, die sich mir heute stellt: Ich bin kein Wissenschaftler, schon gar nicht Physiker, geschweige denn extraterrestrisch. Ich bin auch kein Pionier von Bildung und Erziehung. Ich bin nicht mein älterer Bruder, der könnte das viel besser und lässt Sie herzlich grüßen.

Ich bin auch kein Hanseat, sondern geborener Schwabe und sozusagen „gelernter“ Preuße. Aber es ist eine Ehre für mich, für das ebenso aktive wie noble Bremen hier das Wort ergreifen zu dürfen. Das bedeutet mir viel, und vielleicht darf ich noch hinzufügen: Ich weiß bisher nicht, wie man es anfängt, Henning Scherf eine Bitte abzuschlagen.

Zum andern ist es mein Respekt für Reimar Lüst, mit dem ich - ich weiß gar nicht, ob Sie sich dessen bewußt sind - seit einem halben Jahrhundert verbunden bin. Sie, lieber Reimar Lüst, sind im Vergleich zu mir jung. Jung sind Sie ohnehin - geradezu von einer jugendfrischen Alterslosigkeit. Aber wir gehören doch der selben Generation an. Wir sind aber auch beide alt genug, um miterlebt zu haben und beurteilen zu können, was für wundersame Entwicklungen sich während unseres Lebens zugetragen haben.

Ich habe gelesen, dass zu Ihren Lieblingsbeschäftigungen die Geschichte gehört. Auch bei mir war dies das wichtigste Fach, wichtiger fast als mein eigentliches Studienfach. Was wir nun in unserem Alter erlebt haben, sind Dinge, von denen wir in unserer Jugend nie zu träumen gewagt hätten: Man bedenke nur, dass Reimar Lüst als junger Leutnant auf einem U-Boot gegen die Alliierten gekämpft hat, dass er dann Kriegsgefangener unter anderem auch in Texas gewesen ist, und nun ist er, wie ich gelesen habe, Ehrenbürger des Bundesstaates Texas.
Als Soldat haben Sie gegen Frankreich gekämpft, heute sind Sie Offizier der Ehrenlegion. Sie waren im Krieg gegen die Sowjetunion, und schon in der 50er Jahren waren Sie dann einer der ersten, der Kontakt mit den russischen wissenschaftlichen Kollegen aufnahm und sich für Offenheit und die Verbindung der Wissenschaft eingesetzt hat, gerade auch mit ehemaligen Kriegsgegnern. Ein entscheidender früher Beitrag zu dem, was wir sehr viel später dann mit der Entspannungspolitik versucht haben.
Als junger Student haben Sie mit den gleichen Problemen zu kämpfen gehabt wie alle, nämlich einen Studienplatz zu finden. Auch Sie haben damals natürlich den Sog der amerikanischen Wissenschaftsplätze und ihres exzellenten Rufes verspürt. Und heute nun sind Sie Chairman of the Board of Governors der International University hier in Bremen, der ersten privaten in ganz Europa. Die Kooperation mit der Rice University ist mir wohl bekannt. Ich war selbst einmal dort. Man ist mir auch sehr freundlich entgegengekommen, man hat mich sogar ehrenpromoviert, aber zur Strafe mußte ich dafür auch eine Rede halten. Ich kenne also die Leute so ein bißchen dort und freue mich ganz besonders, dass Sie mit der Rice University in Texas diese Verbindung aufgebaut und gefördert haben.

So viele riesengroße Entwicklungen und Sprünge in einem Leben. Wahre Wunder, aber nicht Zufall, sondern Tatkraft, Offenheit, Weitblick à la Lüst.

Also, ziemlich genau vor 50 Jahren, haben wir uns in Göttingen in der Bunsenstraße kennengelernt. Ich wohnte damals bei meinem strengen älteren Bruder. Sie waren für ihn, und das ist natürlich auch so geblieben, weit interessanter als ich. Er nötigte Sie, über das Planetensystem zu arbeiten. Er war immer schon ein Sterngucker. An eine Geschichte, erinnere ich mich, obwohl ich selbst noch fast ein Baby war. Er war acht Jahre alt und unsere gemeinsame Schwester war vier. In Basel war das. Mein Vater war damals Konsul in Basel. Diese entzückende Schwester war mit ihrem Puppenwagen losgezogen und verschwunden. Die halbe Polizei von Basel suchte nach ihr. Die Aufregung war groß, die Sorgen auch, zumal die unserer Mutter. Und schließlich wurde sie gefunden und wieder nach Hause gebracht, die kleine Schwester. Alle waren tief erleichtert und dankbar. Und was machte der ältere Bruder? Der Carl-Friedrich. Der saß auf dem Schrank, ließ sich durch keine Gefühle anstecken und verkündete: „Heute steht der Jupiter wieder im Zenit des Mondes“ - oder so was ähnliches. So war es eben von Anfang an mit ihm, und irgendwann sind Sie in seine Fänge geraten und sollten auf seinen Vorschlag den Drehimpulstransport berechnen. Er hat damals gesagt, für ihn sei das zu schwer. Aber Sie, Sie haben es geschafft.

Ihr Werdegang: Nicht immer mit Bremen verbunden, aber je länger desto mehr. Schon in der Gefangenschaf hat Reimar Lüst in einer Lageruniversität Vorlesungen vor Mitgefangenen über Differential- und Integralrechung gehalten. Astrophysiker wurde er. Die Theorie über Drehimpulsübertragung innerhalb rotierender Gasmassen und ähnlichen, für den Normalsterblichen unergründlich schwierigen Fragen hat er sich gestellt. Ich habe das, offen gesagt, nicht verstanden, sondern immer nur gelernt. Einstein hat einmal gesagt, man müsse alles so einfach wie möglich erklären, aber nicht einfacher. Da bin ich also diesseits der Schranke geblieben. Mit den Politikern ist es ja gelegentlich umgekehrt. Sie erklären die Dinge oft einfacher als erlaubt.

Sie dagegen haben das Magnetfeld der Erde im Weltraum mit Hilfe einer Bariumwolke sichtbar gemacht. Ein wunderbares, farbenprächtiges Schauspiel muß das gewesen sein. Und so wurden Sie, lieber Herr Lüst, ein europäischer Weltraumpionier. Sie waren maßgeblich beteiligt am Aufbau der European Space Research Organisation, später ESA, und haben sie schließlich geleitet. Nur jemand wie Sie konnte auf das Vertrauen von zwölf Ländern zählen, die unter einen Hut zu bringen waren. Und immer haben Sie darauf gedrungen, dass wir die Weltraumfragen nicht allein den Amerikanern und Russen überlassen dürfen. Sie haben erkannt, dass es sich hier um eine Wissenschafts- und Zukunftsaufgabe handelt, an der wir aktiv beteiligt sein müssen, und so ist es Ihrem entscheidenden Anteil zu verdanken, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen schwere Widerstände ein eigenes, nationales Weltraumprogramm eingerichtet hat.

Schön ist ja auch wenn man liest, dass der Planetoid 4386, den Namen Lüst erhalten hat. So war und ist mit Recht festzustellen: Lüst leuchtet über uns. Für immer. Mein Nachfolger hat sich allerdings einen Scherz damit erlaubt. Er hat gesagt, Lüst leuchtet über uns für immer. Er leuchtet sozusagen wie sein eigener Komparativ, wie ein Lüst-er.

Und nun also mitten hinein in die Hansestadt Bremen, in diese zurückhaltende hanseatisch vornehme, dem Unterstatement verpflichtete Stadt. In diesem schönsten Festsaal, dem man sich denken kann, bekommen Sie das Ehrenbürgerrecht: Das beste, was Bremen zu vergeben hat. Sie werden dem Bremer Bürger gleichgestellt. Sie werden für würdig befunden dazuzugehören, obwohl Sie sich hier nicht niedergelassen haben. Das ist eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung.

Ich habe gelesen, in der in Bremen nicht überraschenden Zurückhaltung gegenüber Ehrungen sei die erste Ehrenbürgerwürde am Ende des 18.Jahrhunderts an einen preußischen Minister verliehen worden, später 1813 an einen russischen Kosakengeneral, allerdings dafür, dass er Bremen von der napoleonischen Herrschaft befreit hat. Das täte Reimar Lüst auch. An Mut würde es ihm nicht fehlen. Wie gut, dass das heute nicht mehr nötig ist. Lüst genießt in Frankreich wie in Russland gleich hohes Ansehen. Und das ist auch gut für Bremen.

Zusammen mit Ihnen ist der Ehrenbürger Hans Koschnick unter uns. Vor wem sollte ich größeren Respekt haben als vor ihm? Was Sie in unseren Beziehungen zu Polen geleistet haben, ist für mich immer ein Vorbild gewesen. Wenn ich daran denke, wie wenig unsere Generation über Polen wusste und wie schrecklich die polnisch-deutschen Nachbarschaftsbeziehungen, wenn man sie überhaut so nennen darf, in den letzten 250 Jahren gewesen sind – und nun zum ersten Mal seit langer Zeit ein vernünftiges friedliches Nachbarschaftsverhältnis mit Polen! Für die jungen Leute heute ist das ganz selbstverständlich - wie gut, dass es so selbstverständlich für sie ist - und wie wundersam ist das für uns. Dazu hat Hans Koschnick maßgeblich beigetragen. Oder was er alles auf dem Balkan geleistet hat und noch leistet. Er hilft den Menschen in großer Not. Lieber Herr Lüst, mit Hans Koschnick haben Sie einen ehrenvollen und großen Kollegen als Ehrenbürger.

Sie waren auf wundersame Weise offenbar immer wieder und schon von früher Jugend an mit Bremen verbunden. Ich habe erfahren, dass Sie schon als Junge in den Ferien auf der Fahrt zu den ostfriesischen Inseln immer in Bremen umsteigen mussten. Und schon damals haben Sie die Gelegenheit benutzt, um Entdeckungsreisen im Bremer Übersee-Museum zu unternehmen. Schon da haben Sie sich faszinieren lassen von den Schiffsmodellen, deren prächtigste hier im Rathaus zu sehen sind, sogenannte Orlogschiffe, die die Hansekoggen vor Seeräubern zu schützen hatten.

Vor ziemlich genau 30 Jahren wurden Sie – ebenfalls in Bremen - zum Präsidenten der Max-Planck Gesellschaft gewählt. Hier bekamen Sie Ihre Amtskette überreicht. 12 Jahre haben Sie diese Organisation an Ihrer Spitze mit Ihrem großen, revolutionierenden Leistungen geprägt. Sie haben auf Ihre ganz eigene Weise Mitbestimmung in der Max-Planck-Gesellschaft eingeführt, weil Sie die Inspirationen der jüngeren Leute einbeziehen wollte. Und wiederum in Bremen übergaben Sie nach 12 erfolgreichen Jahren und überwältigen Leistungen dieselbe Amtskette an Ihren Nachfolger.
Ihre Verdienste um den Luft- und Raumfahrtstandort Bremen sind weit über Bremen hinaus bekannt. Mit solchen, auf die Zukunft gerichteten Aufgaben haben Sie dazu beigetragen, dass hochqualifizierte Kräfte sich wegen der wissenschaftlichen Einrichtungen hier in Bremen ansiedelten. Ich selbst war einmal im Polarforschungsinstitut in Bremerhaven. Das Alfred-Wegener-Institut hat mich tief beeindruckt. Auch dies eine Leistung, die Bremen Ihnen verdankt - lange vor dem ersten Gedanken an die heutige Internationale Universität.

Inzwischen hat die erste europaweite private Universität ihre Pforten geöffnet, und Sie sind der Chairman im Board of Governors. Eine wahrhaft kühne und großartige Idee: Keine Angst vor dem Gedanken der privaten Elite. Keine Scheu davor zu verkünden und klarzustellen, dass es weder zum geistigen noch zum finanziellen Nulltarif eine wirklich brauchbare Spitzenausbildung gibt. Ich will natürlich keinem Kultussenator, keiner Kultursenatorin, keinem Minister zu nahe treten, aber was bei unserer grandiosen verfassungsrechtlichen Regelung nun in Kultusministerkonferenzen heraus kommt, das kann sich eben nicht messen mit dem Mut, mit dem Bremen sich diesem Universitätsmodell gewidmet hat nach der von Ihnen ja schon angedeuteten, nicht gerade unbekannt gebliebenen Bremer Universitätsgeschichte.

So sind Sie immer führend dabei gewesen, wenn es darum ging, auszubilden, zusammenzuarbeiten und auch die politischen Entscheidungen dafür durchzusetzen. Im Wissenschaftsrat, in der Marx-Planck-Gesellschaft und in der Alexander-von-Humbold-Stiftung. Zu meinen Pflichten, die mir stets besonders positiv nahegegangen sind, gehörte es, einmal im Jahr die Stipendiaten der Alexander-von-Humbold-Stiftung mit ihren Familien zunächst in der Villa Hammerschmidt und dann im Schloss Bellevue zu empfangen. Das waren wunderbare Termine.

Die Art und Weise, wie Sie als väterlicher, jugendfrischer Betreuer mit diesen Stipendiaten zusammengelebt haben und weiter in Kontakt sind, hat dazu geführt, dass alle Humboldt-Stipendiaten unsere großen Freunde geworden sind, die besten Botschafter die man sich für unser Land denken kann. Wie Sie sich dafür eingesetzt haben und wie ich Sie dort erlebt habe, das bleibt mir besonders nachhaltig in Erinnerung.

Und nun an dieser University hier in Bremen. Bremen, eine Stadt, die im 19. Jahrhundert den Ruf hatte, die größte europäische Auswanderungsstadt zu sein, jetzt ist sie der erste und stärkste Magnet, um auch einmal umgekehrt Bewegungen in Gang zu bringen und zu verhindern, dass wir die besten Leute an andere europäische Länder oder an Amerika verlieren, sondern in ihnen die Freude daran wach rufen, wieder zurück zu kommen und hier ihren Platz zu finden. Nach einem strengen Auswahlsystem, nach Leistungen, nach Persönlichkeit und doch so, dass jeder, der das nicht bezahlen kann, auf ein ziemlich gutes Stipendienpaket zählen kann, also nicht ausgeschlossen sondern einbezogen wird. Dieser Gedanke ist kühn, wir können in Berlin nur davon träumen, aber er soll ja nicht nur Bremen sondern uns allen zu Gute kommen. Bremen ist immer schon ein Tor zur Welt gewesen, und so wird es gerade mit diesem Gedanken seiner Rolle in besonderem Maße gerecht. Und wenn dann auch noch Reimar Lüst daran führend mitarbeitet, etwas besseres können Sie sich in Bremen gar nicht wünschen.

Ich muß noch einmal auf die Humboldt-Stipendiaten zurückkommen, mit denen Sie auch immer weiter verbunden bleiben. Ich bin gerade wieder auf einer Reise in Ost- und Südasien gewesen. In Japan und in Sri Lanka, an beiden Plätzen, wird man von Humboldtianern angesprochen, und was sie zu berichten haben, ihre Erlebnisse hier in Deutschland, was sie davon nach Hause tragen, das ist an völkerverbindender Aktivität das Beste und das Schönste was man sich vorstellen kann. Helmut Schmidt hat einmal über Sie gesagt, lieber Herr Lüst: Sie würden mit leiser Stimme und bescheidendem Auftreten und sturer Festigkeit Ihre Ziele verfolgen, und dabei glänzende Leistungen vollbringen. Bei zwei dieser drei Eigenschaften bin ich mir nicht ganz sicher, ob Helmut Schmidt sich dabei auch selbst beschrieben hat. Mit „leiser Stimme“ und „bescheidenem Auftreten“ – das ist so eine Sache für sich. Aber „glänzende Leistungen“ mit „sturer Festigkeit“ - das verbindet Sie mit Helmut Schmidt. Und dann haben Sie zusammen mit ihm die Nationalstiftung gegründet, um den Deutschen aus Ost und West dazu zu verhelfen, einen Blick auf die gemeinsame Geschichte zu werfen und sie wirklich als gemeinsame Geschichte zu verstehen und einen gemeinsamen Begriff der eigenen Identität zu entdecken.

Sie haben mit Ihren strengen Anforderungen an Erziehung, Ausbildung und Wissenschaft auch gesagt, die originellen Ideen setzten sich nicht mit der Mehrheit durch, sondern durch den Mut Einzelner. In der Tat! Auf diese Weise ist viel Originalität in der Wissenschaft entstanden, deutlich mehr als in meinen Beruf, in der Politik.

Ich bin geprägt vom Eindruck, dass die Ernennung von Reimar Lüst zum Ehrenbürger Bremens eine Ehre für beide Seiten bedeutet. Es ist eine Ehre für die Hansestadt Bremen, diese würdige, lebendige, offene, kultivierte und zukunftsorientierte Stadt, Reimar Lüst als Ehrenbürger unter sich zu wissen.
Und für Reimar Lüst ist es eine Ehre, hier aufgenommen zu sein, für Ihn das Vorbild für Alt und Jung, für nah und fern. Für Ihn, der unser Ansehen in der Welt vertieft und befestigt hat. Wie kann man nur so tatkräftig, so klug, so konsequent und zugleich so liebenswürdig sein wie Reimar Lüst. Meinen herzlichen Glückwunsch!

 


Author: Media & Public Relations. Last updated on 23.06.2005. © 2005 International University Bremen, Campus Ring 1, 28759 Bremen. All rights reserved. No unauthorized reproduction. http://www.iu-bremen.de. For all general inquiries, please call IUB at +49 421 200-4100 or mail to iub@iu-bremen.de.