INTERNATIONAL UNIVERSITY BREMEN

„Professor Förster, the World Trade Center collapsed!”

   

Vortrag von Dr. Jens Förster zur Eröffnung der Fotoausstellung „Here is New York“
im Neuen Museum Weserburg am 27. Oktober 2002

[ Nov 06, 2002]  Unser Leben hat sich verändert nach dem 11. September. Nichts ist mehr wie vorher. Unsere Sicherheit ist bedroht; wir sind nirgendwo mehr sicher. Gerade da, wo wir uns sicher fühlten, wo Architektur Stärke ausdrückte, wo wir zu vielen hinliefen um die Macht der menschlichen Kreativität und Schaffenskraft zu bewundern, gerade da hat es uns getroffen, am 11. September.

Die Geschichte vom 11. September ist für uns eine Geschichte der Bilder, die sich uns eingebrannt haben. Das Unglaubliche war nur zu glauben, indem wir immer wieder zusahen an jenem 11. September wie die Maschinen in die Türme einschlugen. Dieses Bild, so wie es passierte, hundertmal gesehen, werden wir nicht vergessen, es ist in uns und ein Teil unserer Wirklichkeit, unserer Geschichte, unseres Selbst geworden.
Und wir konnten nicht genug bekommen von diesen Bildern. War das wirklich wahr? Ist das wirklich geschehen? Kann so etwas geschehen? Abseits von jedem Voyeurismus brauchten wir Bilder um das Unglaubliche zu glauben, brauchen wir auch die Bilder dieser Ausstellung, neue Bilder. Ohnmächtig stehen wir vor dem Unfassbaren und doch erinnert uns jedes einzelne Bild an das Unglaubliche und ruft uns gleichsam mächtig zurück, was geschehen ist, was möglich war.

Wir haben auch eigene, subjektive Bilder im Kopf an diesen Tag. Ich erinnere mich, es war der erste Tag an dem ich als Professor of Psychology eine Vorlesung halten durfte, vor 80 neugierigen jungen Menschen aus etwa 40 verschiedenen Nationen, die alle so unterschiedlich aussahen, manche konzentriert, manche lächelnd, manche noch müde vom jet lag und von den Feiern der ersten Woche.

Ich war da angekommen, wo ich hinwollte, Professor mit 36, für mich bedeutete das vor allem Sicherheit, endlich einen sicheren Job haben, wo doch die Bildung so schlecht behandelt wird und alle um ihre Stellen bangen. Ich hatte es geschafft und konnte mich jetzt zurücklehnen. Probleme? Welche denn? Ich würde wunderbar bezahlt werden, ich würde Spaß mit den Studierenden haben, denen ich die Dinge, die mir wichtig waren, auf meine Weise vermitteln konnte. Vorbei die Zeiten, wo ich durch die Welt getingelt war im laufe meiner wissenschaftlichen Karriere, vorbei die Zeiten einer unsicheren Zukunft.

Ich hatte diesen Teil meiner Karriere unter anderem New York zu verdanken. Dorthin war ich nach meiner Promotion gegangen. An die Columbia University, eine der besten Universitäten der Welt. Ich hatte vor allem Angst, Angst dort zu versagen. Ich hatte Angst, nicht mehr mithalten zu können, ein Ostwestfale in New York; studiert hatte er in Trier und Würzburg, unfreundliche, aber übersichtliche Städte. Ich hatte Angst vor den toughen New Yorkern, die alle so geschäftig aussahen und alle 16 Stunden arbeiteten, jeden Tag. Würde ich das durchhalten? Und würde es sich lohnen, sich hier durchzukämpfen, würde es überhaupt eine Stelle für mich geben?

New York ist hart. “If you can make it there, you can make it anywhere” heißt es in Sinatras “New York New York”. New York ist hart. Man hat weder Zugang zu den wirklich guten Clubs noch wird man einfach so angesprochen. Als Tourist vielleicht, aber nicht, wenn man dort wohnt und etwas von den Leuten will. New York ist die Stadt der einsamen Seelen. Die reiche alte Dame, die ihren Hund wie apathisch jeden Tag auf dem Dach ihres Appartementhauses ausführt. Sonst geht sie nicht vor die Tür. Der indische Student, der jeden Tag um 6 Uhr morgens kommt und um 22 Uhr geht, mit dem niemand spricht. Die doormen, die tagein tagaus vor der Tür stehen und nur „Good morning sir, how are you“ sagen und die keinen interessieren. Die Menschen vom financial district, die immer noch über Zahlen nachzudenken scheinen, auch wenn sie das Gebäude verlassen. Einsame Menschen.

Und dabei stolz, in New York zu wohnen. Auf was ist man stolz? Auf ein 30 Quadratmeter Apartment für 2000 Dollar Monatsmiete inklusive Hausratte und Kakerlaken oder Kakerlakengift? Auf drei Jobs, die man annehmen muss um als Portier oder Bedienung überleben zu können? Auf zwei Jahre Arbeit an einer Universität ohne Urlaub, Feiertage und freie Abende?

Nein, man ist stolz, es hier geschafft zu haben. Man ist stolz, in New York zu sein. Man ist stolz, wenn jemand sagt: “You are a New Yorker, aren’t you?” Und man endlich in die Gemeinschaft der New Yorker eingeführt wird.
Man hat es geschafft. Man lebt hier. Was bekommt man dafür? Man erlebt eine wilde Mischung von Leuten aus allen Nationen. Mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, ehrgeizig, stolz, man hat der Welt getrotzt, man hat es geschafft. Alle hatten Hoffnungen, Sehnsüchte, alle hatten Angst und alle hatten es letztendlich geschafft. Man war durch eine total verunsichernde Stadt gegangen und bewegte sich jetzt in ihr wie ein Fisch im Wasser. Man ist New Yorker. Man ist sicher, man ist tough, man weiß was man will und man akzeptiert den anderen. Und das ist anders als in den kleinen übersichtlichen Städten, das gibt Hoffnung auf ein menschliches Miteinander, auf ein Niederbrechen von mentalen Barrieren, die Teil meiner Forschung sind.

Während meiner Vorlesung am 11. September ging mein Handy die ganze Zeit, ich wusste nicht, wie man ausstellte, es war mir etwas peinlich. Auch deshalb unterbrach ich die Vorlesung für einen kleine Pause. Als ich wieder beginnen wollte kam ein Student abgehetzt durch die Tür und sagte: „Professor Förster, the World Trade Center collapsed. The Palestinians flew into it.”

In diesem Moment brach alles zusammen. Wenn das wahr war- ich rechnete 6 Stunden zurück- man hat damit Erfahrung, wenn man noch Freunde dort hat- dann saßen in diesen Gebäuden grad Tausende von Leuten, die ihren Kaffee in Pappbechern tranken. Ich sah diese Leute vor mir. Mein erstes Bild vom 11. September.
Wir brachen die Vorlesung ab, wir trieben schnell einen Fernseher auf. Wir mussten das sehen. Keiner konnte es glauben.
Die Studenten reagierten bestürzt, manche weinten und mussten getröstet werden. Andere gingen ans Internet und übertrugen die Internetseiten auf eine Leinwand, doch das Internet spielte bereits verrückt. Die typischen Seiten wie Yahoo erschienen auf schwedisch oder in irgendeiner anderen Sprache, wenn überhaupt, und die Nachrichten überschlugen sich. Jetzt auch das Pentagon, eine Maschine auf freier Flur heruntergekommen.

Das klingelnde Handy waren Leute gewesen, die mich erreichen wollte um mir zu sagen, dass alles in Ordnung war. New Yorker. Jetzt war niemand mehr zu erreichen. Hilflos wie eine Ratte in einem Laborlabyrinth. Was kommt noch?

Ich ging nach hause und mir wurde auf der Fahrt bewusst, dass mein Fernseher noch nicht da war. Ich war ja erst am 1. eingezogen und hatte Tag und Nacht an der IUB gearbeitet. Ich erinnerte mich, dass der Pizzaservice einen Fernseher hatte. Dort ging ich hin und sah dieselbe Szene immer und immer wieder. Dann, zuhause riefen Freunde an. Endlich.

Irgendwann dann sah man nicht mehr nur die Türme. Man sah Menschen, die springen, wirkliche Menschen, die gerade noch Kaffee getrunken hatten, man sah Menschen voller Staub, völlig am Ende und im Schockzustand, man sah weinende Feuerwehrmänner, man sah die ersten Angehörigen, die ein Bild hochhielten.

Jetzt wurde uns allen klar: da waren wirklich Menschen drin, wirkliche Menschen aller Hautfarben, Menschen wie unsere Nachbarn, unsere Kinder, unsere Freunde. Und diese Bilder waren nicht zu ertragen in ihrer Ungeheuerlichkeit, sie warfen sich auf uns, mit unseren mickrigen Problemen, kleinlichen Karriereängsten, machten uns klar, dass es ab jetzt keine Sicherheit gab- gab es die überhaupt je? Dass wir unendlich endlich sind, fragil.

Wir wissen aus der Sozialpsychologie, dass Bilder anders verarbeitet werden als Texte oder verbale Informationen. Sie haben sofort Zugang zu unseren Gefühlen. Die emotionale Komponente in Bildern aktiviert in unserem Gehirn eine Region, die stammesgeschichtlich früher entstanden ist als unser Großhirn. Dies macht Sinn, denn als soziales Tier das wir sind, müssen wir in sekundenschnelle erkennen, wo Gefahr lauert und wo nicht. Der Emotionsausdruck eines anderen Menschen ist dabei eine besonders wichtige Information, hier können wir innerhalb von Millisekunden erschließen, was der andere empfindet und ebenso schnell reagieren.

Wir wissen, dass traurige Gesichter, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle am Computer eingeblendet- also so, dass ein Bild für Millisekunden gezeigt wird, aber von der Person nicht bemerkt wird- direkt zu Verstimmungen führen. Menschen, die solchen Gesichtern ausgesetzt werden, ändern auch automatisch ihr Verhalten. Sie essen weniger, sie sind weniger riskant, sie sind vorsichtig und scheinen automatisch nach einem Weg zu suchen, dieses unangenehmen Gefühl zu ändern.

Das Leid anderer Menschen betrifft uns, mehr noch ein Bild vom anderen betrifft uns. Wir sprechen im sozialen Miteinander von emotionaler Ansteckung bisweilen. Selbst wenn wir, weil wir ungern Gefühle zeigen uns ein Poker face aufsetzen, können wir in Experimenten zeigen, dass die zuständige Muskulatur für einen traurigen Gesichtsausdruck aktiviert ist, sobald wir ein trauriges Gesicht sehen. Unser Gegenüber bewirkt direkt eine Reaktion; sie ist automatisch und braucht nicht den Umweg über komplizierte kognitive Prozesse. Direkt betrifft uns das Bild eines menschlichen Gesichts und wir reagieren. Sehen wir das Ausmaß der Katastrophe in den Bildern vom 11. September schauen wir jedoch ohnmächtig zu. Wir können nichts mehr ändern, das ist geschehen. Wir können nicht helfen, und wir können nicht fliehen, wir müssen uns immer und immer wieder mit diesen Bildern auseinandersetzen. Warum?

Drei Wochen nach dem 11. September war ich in New York bei Kollegen, ein lange geplanter Workshop. Auch meine Freunde, die alle in der Nähe von Harlem an der Columbia University wohnen hatten das ganze nicht mal aus der Ferne sondern am Fernseher verfolgt. Sie hatten dieselben Bilder, die immer wiederkehrenden Bilder. Auch hier war alles noch unwirklich und voller Angst. Der Hinflug, ein reiner Terror. Überall gingen Alarmanlagen irgendwie los und wenn sie losgingen, liefen Leute, meist „Businessmenschen“, direkt zum Notausgang. Wir hatten jede Sicherheit verloren. Und New York hatte seinen Stolz verloren. Menschen liefen aus Angst vor Antrax mit Gesichtsmasken herum. Sie erinnerten mich unmittelbar an Michael Jackson, der das offensichtlich aus einer Phobie heraus tut- oder aus einem Spleen heraus. Die New Yorker hatten Angst. Menschen gingen gehetzt, sie wollten nach Hause, die Straße war unsicher geworden. Immer wieder fuhren Spritzwagen durch die Straßen zur Desinfektion, meine Schuhe ständig voller Schaum und die Angst ging um, ein Gerücht, dass die Al Qaida vorhatte, ein solches Auto zu kidnappen, um es mit biologischen Waffen zu füllen. Die Einsamkeit der Leute in New York hatte zugenommen. Und das „if you can make it there“ hörte sich nun wie ein spießiger Schlager von damals an.

Ich war zum arbeiten dort und doch wusste ich, ich musste da hin, ich musste Ground Zero sehen, ich musste das sehen und mir ein Bild machen. Ich musste sehen, ob dies, was mir den Boden unter den Füßen wegriss, tatsächlich geschehen war. Mit schlechtem Gewissen, natürlich. „Katastrophentourist“ klang es immer wieder in mir. In der subway gehetzte Gesichter. Die vereinzelten Touristen ernteten scharfe Blicke. Ich hatte alles getan, um wie ein New Yorker auszusehen. Trotzdem überall Feindseligkeit. War diesem zu trauen? Hatten jene auffällige Westen an? Was macht die Plastiktüte da? Warum trägt diese Frau keine Gesichtsmaske? Vor mir eine Frau im schicken Mini - dress for success - mit einer besonders komplizierten Gasmaske, irgendein Sondermodell wohl. Wie im Film. Nicht wirklich zu glauben. Je näher ich Ground Zero kam um so unwirklicher wurde plötzlich alles. Panzerfahrzeuge, Männer in Uniform mit Waffen, wie ich es aus Israel kannte, Angehörige mit Fotos immer noch, ein widerlich süßer Geruch. Unwillkürlich musste ich weinen. Ein Zaun mit Fotos. Wie ein Aufruf an alle: Da sind nicht nur Türme zusammengestürzt, da sind diese Menschen drin gewesen und sie sehen aus wie Du. Bilder, um klarzumachen, wie viele das sind, wie viele dort ihr Leben gelassen hatten. Und wie sehr sie geliebt wurden von einem Menschen, von vielen Menschen. Das war nicht zu ertragen. Die Bilder der Menschen. Die einen anlächelten, manche sehr nett, manche so, als wäre es ihnen peinlich fotografiert zu werden, extra steif gekämmt, manche schlecht fotografiert, unscharf, hinter dem gekünstelten Fotografielächeln der vermutlich nette Mensch, vermisst, tot. Man ahnte schon, dort hingen Bilder von Menschen, die nicht mehr waren, die Angehörigen sprachen mit uns. Ihre Hoffnung - der härteste Schlag. Ohnmächtige Bilder. Manche zig mal hintereinander geklebt, so, als würde das helfen, sie wieder zurückzurufen.

Mir wurde klar, das reale Bild bestand wieder aus vielen kleinen Bildern und aus Bildern von Menschen. Sicher, die Ausmaße der Katastrophe konnte man nur ermessen, wenn man wirklich dagestanden hatte. Ground Zero ist größer als jedes Bild zeigen kann. Man kann den Platz mit bloßem Auge nicht erfassen, der Blick muss wandern. Jedoch waren es wieder kleine Bilder, die Fotos der Hinterbliebenen, die weinende chinesische Touristin, die Stahlbetonträger, die sich aufgrund der Hitzeentwicklung um die noch bestehenden Gebäude geschlungen hatten wie Spaghetti, die Tatsache, dass der Platz, wo ich mit meinen Eltern gegessen hatte und sich mein Vater über die Unvernunft beschwert hatte, die Sandwichs so dick zu beschmieren, dass zwangsläufig etwas auf seine Hose fallen musste, die Tatsache dass dieser Platz nicht mehr existierte, dass der Zeitungsladen nicht mehr besteht, wo mein Freund viel Zeit verbrachte, der CD Laden, der private, der sich durchgesetzt hatte gegen die dicken Konzerne, ein Familienunternehmen- nun alles im Staub. Ich hatte es gesehen. Ich musste das jetzt glauben. Ich hatte ES gesehen. Und doch, als ich den Weg zurück fuhr zu meinen Freunden wurde mir klar: Nun sind es wieder Bilder in mir. Und glaube ich das, was geschehen ist, nun wirklich? Nein, immer noch nicht. Soll ich dahin zurückfahren? Nein. Ich würde mir Bilder ansehen müssen, mein Leben lang, Bilder, um das ganze zu glauben, Bilder um zu glauben, dass so etwas möglich war und mir meine Sicherheit, einen Teil meines mir erarbeiteten Lebens genommen hat.

Ich wusste schon auf dem Weg zurück in der subway, ich hatte nicht mehr gesehen als alle anderen, als Sie heute, da bin ich mir sicher. Das große Bild, zusammengesetzt nämlich aus den vielen kleinen. Die Tatsache, dass wir nie wirklich glauben werden, dass dies wirklich so passiert ist. Denn die Monstrosität des Verbrechens übersteigt menschliche Vorstellungskraft, und wir können das gar nicht glauben. Denn wenn wir es glauben, dann ist unsere Sicherheit für immer dahin.

Und trotzdem brauchen wir die Bilder. Immer wieder. Wir brauchen sie und erfahren, dass es anderen genauso geht. Wir sammeln Bilder, weil wir Bilder brauchen, weil wir alle sie brauchen. Weil wir zu einer Art gehören, die diese Monstrosität als einen unglaublichen Anschlag auf das Menschsein versteht, jedoch den Anschlag selbst eben nicht versteht. Und sich deshalb immer wieder mit diesen Bilder auseinandersetzen muss. Das sind wir nicht. Wir verstehen das nicht. Wir wollen das nicht. Wir wollen das nicht glauben. Und dieser gemeinsame Wunsch zu verstehen gibt uns das Menschliche zurück. Wir sammeln diese Bilder, bis es sich gesetzt hat, dass es passiert ist und wir Möglichkeiten finden, diesen Bildern irgendwann andere Bilder entgegenzusetzen. Womöglich etwas anderes, als einen Krieg, an dessen Erfolg und Sinn auch niemand glaubt.



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Author: kbeck. Last updated on 23.06.2005. © 2005 International University Bremen, Campus Ring 1, 28759 Bremen. All rights reserved. No unauthorized reproduction. http://www.iu-bremen.de. For all general inquiries, please call IUB at +49 421 200-4100 or mail to iub@iu-bremen.de.