INTERNATIONAL UNIVERSITY BREMEN

Was ist, und zu welchem Ende studieren wir Literaturwissenschaft?

   

Vortrag anlässlich des diesjährigen Neujahrsempfangs im Bremer Rathaus - von Prof. Dr. Thomas Rommel.

[ Jan 17, 2003]  Mit dieser Frage nach der eigenen Positionsbestimmung setze ich mich - frei nach Schiller - als Professor für Literaturwissenschaft an der IUB immer wieder auseinander. Und an dieser Stelle möchte ich gleich ein Vorurteil ausräumen: Anspruchsvolle Literatur sei wie guter Wein - trocken. Das muss aber nicht so sein, denn Literatur ist nicht nur faszinierend und interessant, sondern auch relevant. Das will ich Ihnen heute abend an einem Beispiel erläutern.

Von Haus aus bin ich Anglist, beschäftige mich also primär mit der englischsprachigen Literatur Großbritanniens und des Commonwealth. Einer meiner Forschungsschwerpunkte ist die Literatur des 18. Jahrhunderts. Sie sehen, es wird wirklich spannend. Romane wie Robinson Crusoe, Theaterstücke wie The Beggar's Opera, und Adam Smiths ökonomischen Klassiker The Wealth of Nations - alles das sind Texte, die einen Forschungsbereich meiner wissenschaftlichen Arbeit markieren.

Ich möchte Ihnen heute abend - in den nächsten 9½ Minuten - kurz skizzieren, worum es aus literaturwissenschaftlicher Sicht bei dem Thema "Moralphilosophie - Ideengeschichte - Literatur des 18. Jahrhunderts" geht, warum die IUB als Universität dabei eine so wichtige Rolle spielt und wo sich (möglicherweise) Verbindungslinien zwischen der IUB und der Uni Bremen aufzeigen lassen.

Bei meiner Arbeit geht es um die Frage, wie im englischsprachigen Kulturraum des 18. Jahrhunderts die Anfänge ökonomischen Denkens entstanden sind, und zwar aus den Bereichen einer in weiten Gesellschaftskreisen rezipierten Moralphilosophie. Es handelt sich dabei um eine Reaktion auf den zunehmenden materiellen Wohlstand der handelstreibenden Gesellschaften Europas, und diese Reaktion findet ihren deutlichen Niederschlag in der Literatur.

Auffällig ist hier, wie sehr in der intellektuellen Welt des 18. Jahrhunderts die Gebildeten der Gesellschaft über die Ursachen und die moralische Legitimation von Wohlstand nachdachten. Schriftsteller, Philosophen, Unternehmer, Kaufleute, Geistliche, Politiker - die führenden Schichten - dachten darüber nach, wie es kommen kann, dass wirtschaftlich Erfolgreiche für sich selbst Wohlstand erwirtschaften und gleichzeitig den Wohlstand der Nation erhöhen. Diese Einsicht ist keinesfalls selbstverständlich.

Bis dahin war die seit biblischen Zeiten unhinterfragte Vorstellung gültig, dass das Erwirtschaften des eigenen Wohlstands immer nur auf Kosten eines anderen geschehen kann. Es stand "private gain" gegen "common good". Dieses Verhältnis zwischen Selbstinteresse und Allgemeinwohl wurde im 18. Jahrhundert zum ersten Mal kritisch hinterfragt. Wenn man sich anfangs mit der Frage nach der Natur des Menschen auseinandersetzte, und darum geht es ja im Kern:
- ist der Mensch von Natur aus gut, wie der Earl of Shaftesbury argumentierte
- oder ist der Mensch "des Menschen Wolf" (Thomas Hobbes provozierende These von dem homo homini lupus).

Die Frage nach der Natur des Menschen, seiner Gesellschaftsverträglichkeit und damit nach den Motiven, die die Menschen zum profitablen Zusammenleben befähigen, bildet den Ausgangspunkt aller Fragen nach der moralischen Legitimation von Handel und Kommerz - und damit von Wohlstand.

Für die im 18. Jahrhundert neu entstehende Meritokratie, die gesellschaftliche Schicht von Bürgerlichen, die ihren Status und ihren Wohlstand ihrer eigenen kaufmännischen Leistung verdankten, ist die Frage nach dem Stellenwert ihres Handelns von zentraler Bedeutung. Diese Leute aber, wirtschaftlich erfolgreiche Leistungsträger, sahen sich zunehmend gezwungen, ihr Handeln zu legitimieren. Sie suchten darum nach Erklärungen und Argumenten, ihren wirtschaftlichen Erfolg auch moralisch zu rechtfertigen. Der öffentliche Diskurs über Ursachen und Folgen des Wohlstands der Nationen rückte für ein Jahrhundert lang in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion.

Und so ist die Literatur des 18. Jahrhunderts, die ein integraler Bestandteil des öffentlichen Lebens war, durchsetzt von Reflexionen darüber, ob man Reichtum anhäufen kann, ohne den Mitmenschen zu schädigen. Ist dann aber beispielsweise das Verteilen von Almosen notwendig? Welche Rolle spielt der Staat, der lenkend eingreift? Muss die Politik sich nicht protektionistisch verhalten und sicherstellen, dass beispielsweise Exporte ermöglicht werden, ohne den heimischen Markt und die heimische Wirtschaft durch Importe zu gefährden? Als interdisziplinär arbeitenden Literaturwissenschaftler interessiert mich hier besonders die Frage, welche Rolle die Literatur im Zusammenspiel mit dem übrigen Künsten und Wissenschaften spielte und wie die Literatur das Denken und das Selbstverständnis der Zeit beeinflusst.

Fragen zum wirtschaftlichen Selbstinteresse werden heute in den seltensten Fällen in der Literatur verhandelt, sondern Politiker und Ökonomen streiten sich darüber. Im 18. Jahrhundert war die Auseinandersetzung mit solchen Fragen nach dem moralischen Wert geschäftstüchtigen Handelns dermaßen aktuell, dass es praktisch keinen Roman und kaum ein Theaterstück gibt, in dem die Frage nach der ethischen Berechtigung von wirtschaftlichem Erfolg nicht gestellt wird. Man muss dazu bedenken, dass viele Autoren in Personalunion Philosophen, Professoren und Politiker waren - und nicht zuletzt äußerst geschäftstüchtig agierten. Ein Beispiel ist der Schriftsteller Daniel Defoe, der nicht nur Romane veröffentlichte, sondern auch Schriften zur Existenzgründung verfasste.

In seinem Roman Robinson Crusoe, 1719 veröffentlicht, wird, noch bevor Robinson auf der Insel schiffbrüchig wird und seinen Diener Freitag trifft, die Notwendigkeit privaten Gewinnstrebens immer wieder thematisiert und von unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Defoe stellt die Frage, ob es legitim ist, Handel zu treiben, wenn der Wohlstand des einen die Armut des anderen bedeutet. Solange der verarmte andere kein Brite ist, kann Defoe nichts Verwerfliches dabei finden. Bei aller Kritik muß man aber feststellen, dass Daniel Defoe einer der ersten Schriftsteller ist, der zeigen kann, dass das ökonomische Selbstinteresse des einzelnen sehr wohl auf die Gesamtgesellschaft positive Auswirkungen haben kann.

Der ganze Roman Robinson Crusoe ist durchzogen vom Thema Geld und Wohlstand: eine besonders eindrucksvolle Szene ist die, als Robinson am Strand seiner Insel steht und zum einem Schiffswrack hinausschwimmen will. Er zieht sich aus, springt ins Meer, schwimmt zum Schiff, auf dem er dann nicht nur Werkzeug und Proviant, sondern auch Goldmünzen findet. Robinson ist zwar allein auf der Insel, aber das Gold will er nicht liegenlassen. Also stopft sich der nackte Robinson das Gold in die Taschen. Welche Taschen, fragen wir uns... Entscheidend neben Defoes kleinem Regiefehler ist, dass Tausch, Geld und Gewinn selbst für den Schiffbrüchigen auf seiner Insel von großer Bedeutung sind.

Der Roman Robinson Crusoe ist nur ein Beispiel dafür, wie durch das Medium der Literatur Grundfragen zur Natur des Menschen und der Gesellschaft aufgearbeitet werden. Als dann der Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith am Ende des 18. Jahrhunderts in seinem großen Werk Der Wohlstand der Nationen die These von der "Arbeitsteilung" und dem Walten der "Unsichtbaren Hand" entwickelte, die heute noch unsere Vorstellung vom wirtschaftlichen Miteinander der Menschen prägt, da konnte er auf literarische Verarbeitungen seiner Thesen aufbauen, die allen seinen Lesern vertraut waren: in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent - und nicht zuletzt in den damaligen britischen Kolonien Nordamerika.

Entwickelt und aufgearbeitet, diskutiert, verworfen, modifiziert und auf Tauglichkeit erprobt wurden diese Theorien in intensiver Form in der Literatur des 18. Jahrhunderts, und die fiktionale Verarbeitung der "ökonomischen Natur des Menschen" in und durch die Literatur lässt sich in den meisten Texten nachvollziehen. In Oliver Goldsmiths Theaterstück She Stoops to Conquer, ebenso wie in Alexander Popes Gedichten, die fast jeder Zeitgenosse auswendig kannte, werden ganz ähnliche Fragen verhandelt. Lichtenberg und Schiller in Deutschland, Voltaire und Rousseau in Frankreich - überall dient die Literatur dabei als "intellektuelles Labor", als Möglichkeit, in der Fiktion alternative Gesellschaften zu entwerfen und im Vergleich zum wirklichen, beobachtbaren Leben, auf Tragfähigkeit zu überprüfen. Wenn Alexander Pope sagt: "The proper study of mankind is man!", dann skizziert er eine Aufgabe der Literatur, der Frage nach dem "Menschlichen" nachzugehen.

Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der faszinierenden Epoche des 18. Jahrhunderts, die unser heutiges Verständnis vom Menschen und der Gesellschaft entscheidend prägt, lässt - und das ist für mich als IUB-Professor interessant - vielfältige interdisziplinäre und dann transdisziplinäre Verknüpfungen zu: zur Geschichte, zur Philosophie, zur Ökonomie, zu den Gesellschaftswissenschaften, aber auch zur Theologie und zur Psychologie. Es zeigt sich, dass in diesem Bereich die literaturwissenschaftliche Analyse der Romane, Dramen und Gedichte den Ausblick auch auf andere Disziplinen geradezu erfordert. Zentral ist die Frage, mit welchen rhetorischen Strategien Sympathie gelenkt wird, wie bestimmte Lesarten als plausibel vermittelt werden, wie die Literatur als Spiegel der Gesellschaft dient, aber gleichzeitig durch das zeitgenössische Denken geprägt ist und es wiederum selber prägt. Das sind Fragen, die einen Literaturwissenschaftler nachts nicht schlafen lassen! Kurz gesagt: Um einen fächerübergreifenden Zugang zum Verständnis von Literatur zu ermöglichen, zu diesem Ende studieren wir Literaturwissenschaft an der IUB.

Als Anglist muss ich heute abend natürlich mit Shakespeare schließen. Und der Prolog aus Romeo und Julia trifft unsere Situation hier ganz wunderbar: er beschreibt - Sie erinnern sich - die beiden mächtigen Familien Capulet und Montague. Romeo und Juliet beginnt mit einem raffiniert variierten jambischen Pentameter:

Two households, both alike in dignity
in fair Verona, where we lay our scene


Auf Deutsch könnte man, frei nach Shakespeare, sagen:

Zwei Unis, beide gleich in Rang und Ehre
im schönen Bremen, wo die Handlung spielt
forschen, glänzen in der Lehre
auf Wissenschaft ihr Wirken zielt.

 


Author: News & Events. Last updated on 23.06.2005. © 2005 International University Bremen, Campus Ring 1, 28759 Bremen. All rights reserved. No unauthorized reproduction. http://www.iu-bremen.de. For all general inquiries, please call IUB at +49 421 200-4100 or mail to iub@iu-bremen.de.